Krimiblog-Archiv

2005 – 2010

Kategorie: Briefe an Romanfiguren

Brief an Cayetano Brulé, angehender Privatdetektiv, Valparaíso, Chile

Niedersfeld, im März 2010

Sehr geehrter Señor Brulé,

vielen Dank für die abwechslungsreiche und atemberaubende Reise, die Sie in den gut 380 Seiten Ihrer Erzählung “Der Fall Neruda“ zurückgelegt haben und auf die ich Sie lesend begleiten durfte. Von Valparaíso nach Mexiko-Stadt, Havanna, Ost-Berlin, Frankfurt am Main, La Paz, Santiago de Chile und immer wieder Valparaíso. Dies alles am Vorabend des Militärputschs in Chile im September 1973. Ich gestehe, dass ich aus meiner zeitlichen, räumlichen, ja und auch gesellschaftlichen Distanz zu Ihnen überrascht bin. All diese vielen Flugkilometer haben Sie zurückgelegt, um einem sterbenskranken Dichter einen letzten Wunsch zu erfüllen. Am Ende gehen Sie sogar dafür ins Gefängnis, denn während Sie nach einer verschwundenen Frau in all den fremden Städten suchten, spitzte sich die politische Lage in Chile zu. Kurz vor der Erfüllung Ihres Auftrags liegt der kranke Dichter im Sterben, wie der demokratische Sozialismus Salvadore Allendes. Der Totengräber Augusto Pinochet steht mit dem Spaten bereit. Am Tag des Putsches sind Sie auf einer Landstraße unterwegs, als Militärs Sie aufgreifen und mit vielen anderen in ein Gefängnis bringen. Tausende sind in jenen Tagen verschwunden und bis heute nicht wiedergekehrt. Sie hingegen hatten Glück, denn nach einigen Tagen wurden Sie wieder frei gelassen. Quälende Ungewissheit und viele offene Fragen müssen das bei all den vielen Angehörigen sein. Ungewissheit quälte auch Ihren kranken Dichter. War er bei einer seiner zahlreichen Liebschaften Vater geworden? Diese Frage sollten Sie, werter Señor Brulé, für ihn klären.

Pablo Neruda, der eigentlich Neftalí Ricardo Reyes Basoalto hieß und der Ihnen erklärt, dass das Leben eine Abfolge von Maskeraden sei, war es, der sie auf diese Suche schickte. Ihre Zuneigung zu dem großen Poeten, dessen Schattenseiten im Laufe der Erzählung immer wieder deutlich werden – von seiner hymnisch Verehrung für Stalin bis hin zu seinem verabscheuungswürdigen Umgang mit seiner behinderten Tocher und seinen verschiedenen Frauen – will mir, wenn ich ehrlich bin, nicht so recht einleuchten. Verzeihen Sie, werter Señor Brulé, aber ich finde Ihren Blick da ein wenig naiv. So naiv, wie zu glauben, man könne zum Detektiv werden, wenn man nur reichlich Maigret-Romane liest. Das mag als literarisches Spiel amüsant sein, vor dem Hintergrund der politischen Katastrophe, die sich in Chile damals anbahnte, wirkt das ein wenig albern. Sie lesen also Maigret, weil es Ihnen der große Dichter befohlen hat – so wie er Ihnen auch von Poe und Doyle abrät, weil sie zu verschroben und zu vergeistig seien. Niedlich. Ein literarischer Witz, der nicht so recht zünden will, weil drumherum das lauter werdende Dröhnen der Bomber, die demnächst den Präsidentenpalast bombardieren werden, das Lachen erstickt.

Da passt etwas nicht zusammen

Nun möchte ich natürlich nicht der Miesepeter sein, der all die romantisierenden Beschreibungen vom todkranken Neruda, vom etwas arglosen Allende und von Ihnen, der wie ein kleiner Junge mit all den großen Männern Chiles spricht, ins Lächerliche zieht. Schließlich hat sich Ihr Erfinder, Roberto Ampuero, harte Gegensätze ausgedacht. Dem eher leichtfüßigen Sozialismus chilenischer Prägung und dem schon härteren Sozialismus Kubas – Ihrem Heimatland, Señor Brulé – setzt er den technokratischen Sozialismus der DDR entgegen. Dorthin bringt Sie Ihre Suche nach jener geheimnisvollen Frau, die vielleicht die Tochter des großen Dichters ist. Schon kurz nach Ihrer Ankunft haben Sie die Stasi am Hals und zugleich eine hübsche, junge Frau, die sich allmählich mit dem System ihres Heimatlandes überwirft. Das ist schon eine spannende Episode gewesen, die mich beim Lesen gepackt hat und die mit Ihrer Flucht aus der DDR endete. Wer will es Ihnen verdenken?

Ansonsten gab es leider nur wenige Momente, die mich ernsthaft und mit Lesevergnügen an Ihre Geschichte gefesselt haben. Vielleicht noch die Schlussszenen, in denen ich erlesen durfte, wie Sie den Tag des Putsches, jenen 11. September 1973, erlebten, immer noch völlig in Anspruch genommen von Ihrem Auftrag und Ihrer Suche nach dem kranken Dichter, der in den Wirren des Tages auf einmal unnahbar für Sie wurde. Das war eine großartige, kinoreife Darbietung, die so manche Altherren-Romantik, die ich in den Seiten davor lesen musste, überbot. Aber Sie merken schon, so richtig überzeugt hat mich Ihre Geschichte leider nicht. So steht Ihre politische Naivität – ich muss es so hart formulieren – überhaupt nicht im Einklang mit der nüchternen Schilderung der Ambivalenz Nerudas. Da passt etwas nicht zusammen: Ihr Erfinder zeigt durchaus ein differenziertes Bild von Neruda, Sie aber, werter Señor Brulé, bleiben der kleine, kubanische Junge, der seinem großen Dichter blindlings folgt – und der von ihm benutzt wird, wie viele andere Weggefährten auch. Nein, so wird man kein großer Detektiv. Da nützt auch die Lektüre von Maigret-Romanen nichts, wobei sie, da hat der große Dichter schon recht, sehr lehrreich sein kann.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Ludger Menke

Postskriptum:
Der Fall Neruda von Roberto AmpueroRoberto Ampuero: Der Fall Neruda : Roman / Aus dem Spanischen von Carsten Regling. – Berlin : Bloomsbury Berlin, 2009
ISBN 978-3-8270-0866-4 – Preis: 22,- €

Originalausgabe: Roberto Ampuero : El caso Neruda. – Bogotá : Editorial Norma, 2008

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Brief an Michael Kelly, Privatdetektiv, Chicago

Winterberg, im März 2010

Sehr geehrter Mr. Kelly,

zunächst möchte ich Ihnen mein Beileid zum Tode ihrer langjährigen Freundin Nicole aussprechen. Ihre Ermordung, deren Zeuge ich während der Lektüre Ihres ersten Falles “Preis der Schuld“ wurde, hat mich gerührt, so wie mich auch die gesamte Lektüre überrascht hat. Versprachen doch Klappentext und Pressestimmen einen “Raymond Chander für das 21. Jahrhundert“, einen Privatdetektiv in der Tradition von Sam Spade und Philip Marlowe. Gewiss, diese Tradition will ich Ihnen nicht absprechen, schließlich sind Sie Privatdetektiv in Amerikas Windy City, dort, wo auch zum Beispiel ihr weiblicher Gegenpart V. I. Warshawski ihrem Job nachgeht. Dennoch sind Sie ein wenig anders: Sie lesen Aischylos und Homer, die griechische Mythologie mit ihren blutigen Fehden ist Ihnen nicht unbekannt. Selbstverständlich tauchte bei mir während der Lektüre ihrer Geschichte einmal mehr die Frage auf, inwieweit griechische Dramen und Epen immer auch schon Kriminalerzählungen sind und ob wir letztlich nicht immer wieder in der Kriminalliteratur diese Erzählformen durch deklinieren. Die Verknüpfung, die Ihr geistiger Vater Michael Harvey da herstellt, ist auf jeden Fall ein interessanter Ansatz.

Natürlich kannten auch die alten Griechen ein Verbrechen, das in ihrer Geschichte in den Mittelpunkt rückt: Die Vergewaltigung. Es ist der Fall der jungen Elaine Remington, der Ihnen, werter Mr. Kelly, keine Ruhe lässt. Ihr alter Polizeikumpel John Gibbons sucht Sie auf. Während er immer noch im Dienste des Staates steht, arbeiten Sie schon länger auf eigene Faust. Ihr Kumpel Gibbons schildert gleich zu Beginn in einem stakkatohaftem Gespräch den Überfall auf die junge Frau, die bei einer Vergewaltigung auf offener Straße mit Messerstichen malträtiert wird. Heiligabend 1997 passierte das. Nur knapp überlebte Elaine den Angriff und doch wurde der Täter nie gestellt. Gibbons Chef lobte seinen Untergebenen damals nach oben – dafür musste Gibbons die Klappe halten. Nun, neun Jahre später, plagt Gibbons das Gewissen – auch, weil Elaine sich in einem Brief an ihn gewandt hat. Mit diesem Brief in der Hand steht er nun bei Ihnen, Mr. Kelly, weil Sie in seinen Augen der beste Ermittler waren und sind. Ahnten Sie, in welches Unheil Sie dieser Besuch Ihres früheren Kollegen Sie führen wird? Vermutlich nicht, denn nur einige Stunden nach dem Besuch bei Ihnen ist John Gibbons tot. Er liegt erschossen unter einem Pier.

Der Mord an Ihrem Kumpel bringt viele Dinge ins Rollen: Eine attraktive TV-Moderatorin tritt in Ihr Leben, Sie werden als Tatverdächtiger verhaftet, und schließlich erscheint auch Nicole, mit der sie seit den Tagen Ihrer harten irischen Kindheit eine Freundschaft pflegen, auf der Bildfläche. Eine junge, schwarze Frau, die es wie Sie zur Polizei geschafft hat und bei einem Sonderdezernat für Vergewaltigungsdelikte arbeitet. Nicole ist es, die es Ihnen als Privatdetektiv ermöglicht, auf Polizeiquellen und Polizeimethoden zurück zu greifen. Sie ist es auch, die Sie mitnimmt zu weiteren Mord- und Vergewaltigungsfällen. Doch nicht nur das: Sie, Mr. Kelly, stöbern im Asservatenlager der Chicagoer Polizei und stoßen dabei auf eine Spur, die schließlich ihrer Freundin Nicole das Leben kosten wird und Sie zu dem wohl berühmtesten Serienkiller Ihrer Stadt führt: John William Grime, der uns in der realen Welt als John Wayne Gacy bekannt ist. Ihr Grime hat vor allem weibliche Prostituierte vergewaltigt und ermordet, unser Gacy hatte es bekanntlich auf Jungs abgesehen. Beide – Grime und sein reales Vorbild Gacy – sind als Killer-Clowns bekannt.

Sex, Tod und Rache

Was denken Sie, Mr. Kelly? Haben wir nicht schon genug über Serienkiller gelesen, gehört und gesehen? Killer-Clown, Boston-Strangler oder der Zodiac-Killer – irgendwie gehören diese menschlichen Monster offenbar zur US-amerikanischen Kultur. Mehr zumindest, als zur europäischen oder deutschen Kultur – bei uns sind da eher die Massenmörder beheimatet. Aber, um zu Ihrer Geschichte zurückzukehren, der Serienkiller bleibt bei Ihnen eine Randfigur, wenn auch eine wichtige. Die Ergebnisse Ihrer spannenden Nachforschungen, die durchaus noch mehr Tote nach sich ziehen, weisen auf ein anderes Phänomen hin: Vergewaltigung. Gut erinnere ich mich noch an die Worte von Rachel Swenson, Vorsitzende einer Organisation, die sich um vergewaltigte Frauen kümmert, die sie während einer Wohltätigkeitsveranstaltung ans Publikum richtet:

“Es gibt über einhundert Millionen Frauen in den Vereinigten Staaten. Fast zwanzig Prozent davon, etwa achtzehn Millionen, wurden schon einmal vergewaltigt. Die Mehrheit davon mehr als ein Mal. (…)Insgesamt kommt es in diesem Land zu über achthunderttausend sexuellen Übergriffen im Jahr. Das sind dreizehnmal mehr als in Großbritannien. Zwanzigmal mehr als in Japan.“

Tatsächlich sind diese Zahlen für die USA, soweit ich das absichern konnte, weitgehend belegt. Realität in der Fiktion, eine Realität, mit der Sie sich als Privatdetektiv in ihrer Geschichte ganz konkret auseinandersetzen müssen. Von ihrer toten Freundin, deren Vergewaltigung sie einst als Junge anschauen mussten, bis hin zu einem jungen Mädchen, das von ihrem Vater misshandelt wurde, treffen Sie in Ihrer düsteren, traurigen Geschichte auf einige Opfer sexueller Gewalt. Wie Sie damit umgehen, ist erstaunlich und von Ihnen spannend geschildert. Ihr Erfinder Michael Harvey hat Ihnen dafür eine komplexe Persönlichkeit mitgegeben. Eine Persönlichkeit, das darf ich sicher sagen, Mr. Kelly, die sich abhebt von den oft eindimensionalen Privatschnüfflern, die einem als Leser immer wieder unter die Augen kommen. Das dazu die Lektüre griechischer Klassiker sicher ihren Teil beigetragen hat, mag sein. Eine kluge Dramaturgie, raffinierte Wendungen, die immer wieder Ihr Schicksal bestimmen und gelegentliche harte Schnitte und Bruchstellen – all das durfte ich Ihrer Geschichte entnehmen. Sie hat mich ein wenig klüger gemacht. Unterhalten hat sie mich nicht – was nicht negativ gemeint ist, denn schließlich haben Sie mir eine grausame Geschichte von Sex, Tod und Rache erzählt. Am Ende blieben mir dann sogar mehrere Auflösungen – auch das hat Ihr Schöpfer sehr geschickt eingefädelt. Es waren nicht durchweg angenehme Lesestunden mit Ihnen, das sicher nicht. Aufklärerisch war es hingegen schon. Danke dafür. Ich freue mich auf ein Wiederlesen mit Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Ludger Menke

Postscriptum:
Preis der Schuld von Michael HarveyMichael Harvey: Preis der Schuld : Kriminalroman / Aus dem Amerikanischen von Anke und Eberhard Kreutzer. – München : Knaur, 2010
ISBN 978-3-426-50251-8 – Preis: 8,95 €

Originalausgabe: Michael Harvey: The Chicago Way. – New York : Alfred A. Knopf, 2007

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Briefe an Romanfiguren

“Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“ – dieses Zitat von Jean Paul ist bekannt. Es führte mich zu einer Überlegung: Wenn Autoren uns Lesern dicke Briefe schreiben, dann könnten wir Leser doch auch zurückschreiben. Allerdings: Wohin soll ich meine Briefe schicken? Wo wohnen sie denn, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller? Da ich ernsthaft keine Lust habe, Telefonbücher und Adressverzeichnisse zu durchstöbern – und wer ist da schon zu finden? – und die Verlage kaum die Anschriften ihrer Autoren herausgeben (bei einigen Autorinnen und Autoren durchaus berechtigt), habe ich mir eine andere Lösung überlegt. Ich schreibe nicht an die Autoren, ich schreibe an die Romanfiguren. In der Regel weiß ich, wo die wohnen, nämlich im Buch. Veröffentlichen werde ich diese Briefe → hier im Krimiblog, was das Porto spart und außerdem können Sie, wenn Sie mögen, mitlesen.

P.S.: Einen ersten Brief → finden Sie hier.