Niedersfeld, im März 2010
Sehr geehrter Señor Brulé,
vielen Dank für die abwechslungsreiche und atemberaubende Reise, die Sie in den gut 380 Seiten Ihrer Erzählung “Der Fall Neruda“ zurückgelegt haben und auf die ich Sie lesend begleiten durfte. Von Valparaíso nach Mexiko-Stadt, Havanna, Ost-Berlin, Frankfurt am Main, La Paz, Santiago de Chile und immer wieder Valparaíso. Dies alles am Vorabend des Militärputschs in Chile im September 1973. Ich gestehe, dass ich aus meiner zeitlichen, räumlichen, ja und auch gesellschaftlichen Distanz zu Ihnen überrascht bin. All diese vielen Flugkilometer haben Sie zurückgelegt, um einem sterbenskranken Dichter einen letzten Wunsch zu erfüllen. Am Ende gehen Sie sogar dafür ins Gefängnis, denn während Sie nach einer verschwundenen Frau in all den fremden Städten suchten, spitzte sich die politische Lage in Chile zu. Kurz vor der Erfüllung Ihres Auftrags liegt der kranke Dichter im Sterben, wie der demokratische Sozialismus Salvadore Allendes. Der Totengräber Augusto Pinochet steht mit dem Spaten bereit. Am Tag des Putsches sind Sie auf einer Landstraße unterwegs, als Militärs Sie aufgreifen und mit vielen anderen in ein Gefängnis bringen. Tausende sind in jenen Tagen verschwunden und bis heute nicht wiedergekehrt. Sie hingegen hatten Glück, denn nach einigen Tagen wurden Sie wieder frei gelassen. Quälende Ungewissheit und viele offene Fragen müssen das bei all den vielen Angehörigen sein. Ungewissheit quälte auch Ihren kranken Dichter. War er bei einer seiner zahlreichen Liebschaften Vater geworden? Diese Frage sollten Sie, werter Señor Brulé, für ihn klären.
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