TagesSatz
vom Krimiblogger
„Aus philologischer Sicht war es unerklärlich, wie ein einzelner Text Lust erzeugen sollte. Wenn man etwa bei einem Satz von Lin Shu jedes Wort durch ein Synonym ersetzte – also ohne den Sinn auch nur minimal zu verändern -, war diese heimtückische Wirkung dahin. Gisbert machte diese und noch viele andere Proben, bis er zu dem Ergebnis kam, daß sich das System den ihm bekanten Regeln entzog und man die Wirkung eines literarischen Texts vielleicht erklären und auch herausfinden konnte, wie diese Wirkung zustande kam, aber sobald man versuchte, eine Theorie aufzustellen, scheiterte man an der Unwiederholbarkeit des Phänomens. Zu wissen, wie ein bestimmter Text funktioniert, half einem nicht weiter, einen anderen Text zu verstehen, es handelte sich also nicht um universales, nachprüfbares Wissen, sondern um einen Eindruck, ein Wort, auf das Wissenschaftler wie er allergisch reagieren. Trotzdem konnte er sich der dunklen Macht dieses Universums nicht entziehen; er war glücklich und gleichzeitig verstört, daß er diese Tür geöffnet hatte, die er vermutlich nie wieder würde schließen können.“
Santiago Gamboa: Die Blender
Kommentare
Lieber Ludger,
kein Philologe, der seine paar Sinne halbwegs beisammen hat, käme auf die törichte Idee, die „Lusterzeugung“ eines Textes auf die beschriebene Weise wissenschaftlich beweisen zu wollen. „Zu wissen, wie ein bestimmter Text funktioniert“, ist überdies nicht das ausschließliche Ergebnis einer Sprachanalyse (die mit allem, aber gewiss nicht mit Synonymen arbeiten würde). Es geht unter anderem tatsächlich um den „Eindruck“, auf den Wissenschaftler nicht etwa allergisch reagieren, sondern den sie durchaus berücksichtigen und beschreiben wollen. Er hat u.a. etwas mit Lese(r)psychologie zu tun. Es gibt Texte, die mir in ganz bestimmten „Stimmungen“ Lust machen – und in anderen nicht. Das hat dann weniger mit dem Text als mit mir selbst zu tun. Ich möchte das jetzt weder vertiefen noch einen Berufsstand auf Teufel komm raus verteidigen – aber SO naiv sind sie nun mal doch nicht, die Philologen.
bye
dpr
Lieber dpr,
die Figur, die mit Hilfe des Zitats aus Gamboas Roman „Die Blender“ so vorgestellt wird, heißt Gisbert Klauss und ist ein reichlich überzeichnetes Klischee eines Philologen und Wissenschaftlers. So, wie sich manche den berühmten „zerstreuten Professor“ vorstellen. Lebensunfähig, trocken und nur der Wissenschaft ergeben. In diesem Abschnitt, aus dem das Zitat stammt, entdeckt der gute Gisbert gerade die Macht der chinesischen Literatur (ist für den weiteren Verlauf der Geschichte wichtig, weil er kurz darauf beschließt, nach Peking zu fliegen), der er bisher nur unter rein wissenschaftlichen Aspekten begegnet ist. Dies erklärt vielleicht ein wenig mehr, warum Gamboa die Philologen so schildert. Genaueres kann ich noch nicht sagen, ich muss das Buch noch weiterlesen.
Viele Grüße
Ludger
Hallo Ludger,
ach so! Ja, solche kenne ich auch! Bin auf deine Rezension gespannt!
bye
dpr