Ein Ermittler als Vorbild

vom Krimiblogger

Der Verdacht des Mr. Whicher
Kate Summerscale: Der Verdacht des Mr. Whicher oder Der Mord von Road Hill House
Hinweis: Diese Besprechung enthält Spoiler.

Die Kriminalliteratur entdeckt ihre Wurzeln. Neuauflagen von mehr oder weniger wichtigen Klassikern in verschiedenen Verlagsreihen, umfangreiche Bibliographien zum Genre oder literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den zahlreichen Anfängen der Kriminalliteratur – Forscher, Archäologen und Historiker sind verstärkt unterwegs, um im Staub der Jahrhunderte zu wühlen und der kriminalliterarischen Vergangenheit ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Dazu gehört selbstverständlich auch die Erkundung der mittelbaren und unmittelbaren Vorfahren des “Kriminalromans“ – was man auch immer heute unter dem Begriff verstehen mag. Der englische Sensationsroman, dessen Geburt man gemeinhin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert, ist einer dieser Vorgänger. Ein ungeliebter Ahne, denn er ist ein Kind der Straße, der Gosse. Oft in Fortsetzungen erschienen, zeichnen sich Sensationsromane unter anderem durch die für damalige Verhältnisse drastische Schilderung von spektakulären Ereignissen – wie eben einem Mord – aus. Ihre wachsende Popularität ist eng mit der Entwicklung von billigen Zeitungen wie auch mit der zunehmenden Alphabetisierung von Arbeitern, Bauern und Dienstboten verknüpft. Wie wichtig dieses Sensationsromane für die Entwicklung der Kriminalliteratur waren, zeigt auch das Buch “Der Verdacht des Mr. Whicher“ der britischen Autorin Kate Summerscale. Hierzulande ist das Sachbuch, eine Mischung aus kriminalistischer, historischer und literarischer Studie, von der Kritik so gut wie gar nicht wahrgenommen worden, in England hingegen wurde es mit einem Preis der BBC bedacht. Summerscale zeichnet in ihrem Buch ein grausames Verbrechen nach und setzt es in einen soziologisch-historischen und literaturhistorischen Kontext. Anhand eines Mordes stellt sie die Bedeutung des Genres des Sensationsroman dar und richtet ihren Blick auf die wechselseitige Beeinflussung von fiktiver Literatur und der “journalistischen“ Beschreibung von Kriminalität.

Verbrechen sind auch immer Ausdruck ihrer Zeit, in der sie geschehen. Das Verbrechen, von dem Summerscale berichtet, ist ein besonders abscheulicher Kindesmord, der sich im Sommer 1860 in der Grafschaft Wiltshire zugetragen hat. Im Hause des Fabrikinspektors Samuel Kent und seiner zweiten Frau Mary Kent ist am Morgen des 30. Juni der dreijährige Sohn Saville verschwunden. Die Familie Kent lebt zu der Zeit mit ihren sieben Kindern und einer Reihe von Dienstboten in dem Anwesen von Road Hill House. Samuel Kent gilt aufgrund seiner Tätigkeit als Fabrikinspektor in der Gegend unbeliebt. Da er unter anderem Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter, insbesondere der arbeitenden Kinder, in den Wollspinnereien durchgesetzt hatte, misstrauen ihm sowohl Fabrikbesitzer wie auch Arbeiter. Seine zweite Frau Mary, die ehemals als Gouvernante im Hause der Kents gearbeitet hatte, ist hochschwanger. Ihr Sohn Saville, der gemeinsam mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Eveline und dem Kindermädchen Elizabeth Gough in einem Zimmer schlafen sollte, ist aus seinem Bett verschwunden. Nach Aussagen des Kindermädchens schöpfte sie am frühen Morgen zunächst kein Verdacht, da sie vermutete, Mrs. Kent habe den Jungen zu sich ins Bett geholt. Als sich keine Spur Savilles findet, beginnen Dienstboten und Nachbarn mit der Suche nach dem Verschwundenen. Mr. Kent selbst fährt mit einer Kutsche in einen benachbarten Ort, um die Polizei zu informieren. Doch noch während Mr. Kent unterwegs ist, finden der Schuhmacher Nutt und der Bauer Benger die Leiche des Jungen. Saville liegt mit durchgeschnittener Kehle im Abort der Dienstboten.

Familiengeheimnisse

Die örtliche Polizei ist mit der Aufklärung des Verbrechens überfordert. Schon bei der Klärung der Todesursache tauchen Fragen auf: Die Leiche wies einen Schnitt durch die Kehle auf, dazu wurde dem Jungen in die Brust gestochen und es gab Anzeichen für eine Erstickung. Was aber war die Todesursache? Mrs. Kent, die Mutter des toten Jungen, geht davon aus, dass der Täter aus dem Haus stammen müsse. Sehr schnell lenken die ermittelnden Polizisten den Verdacht auf das Kindermädchen Elizabeth Gough. Sie habe angeblich einen Mann in ihrem Bett gehabt, der Junge sei aufgewacht und um ihn zum Schweigen zu bringen, haben Gough und ihr Liebhaber den Jungen erstickt und anschließend verstümmelt, um den Verdacht auf andere zu lenken. Nachweisen können die Ermittler der Frau die Tat nicht und die Presse spottet über die Unfähigkeit der örtlichen Polizei. Ein “erfahrener Kriminalpolizist“ wird gefordert und am 14. Juli – also gut zwei Wochen nach der Tat – wird Detective Inspector Jonathan “Jack“ Whicher nach Road Hill House beordert, um den Mord an dem kleinen Jungen aufzuklären.

Whicher gilt als eine kluger Beobachter und scharfer Analytiker. Geboren und aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, kam Whicher 1837 zur Londoner Metropolitan Police, die damals gerade acht Jahre alt war. Schnell arbeitet er sich nach oben: Während die regulären Polizisten durch ihre Uniformen zu erkennen sein mussten, wurde Anfang der 1840er Jahre eine kleine, geheime Gruppe “aktiver Polizisten“ gegründet, die in Zivilkleidung auf Streife ging. Whicher gehörte zu diesen verdeckt arbeitenden Ermittlern. 1843 wurde dann offiziel die “Kriminalpolizei“ gebildet und auch hier war Whicher mit dabei. Zahlreiche Verbrechen, darunter auch Morde, klärte Whicher erfolgreich auf. Doch der Fall Saville Kent sollte sich zu einem beruflichen Desaster für den Polizisten entwickeln.

Während seiner Ermittlungen im Hause der Familie Kent stößt er auf Unklarheiten. Bei der Durchsuchung des Zimmers von Constance, der jüngsten Halbschwester von Saville, fällt Whicher auf, dass ein Nachthemd fehlt. Nicht das Offensichtliche, das Verborgene, wird zu einem zentralen Punkt in der Ermittlung des Mr. Whicher. Constance, so die Annahme des Detective Inspectors, habe ihren Halbbruder aus Neid oder Eifersucht ermordet, da sie sich als Kind aus der ersten Ehe zurückgesetzt gefühlt habe. Ihr – vermutlich blutgetränktes – Nachthemd habe sie verschwinden lassen. Als Whicher seinen Verdacht den verantwortlichen Richtern mitteilt, geben sie ihm sieben Tage Zeit, seine Verdächtigung mit Beweisen zu belegen. Dabei spielte nicht nur das verschwundene Nachthemd eine Rolle, sondern auch die Entwicklung und die Psyche der Verdächtigen. Whicher befragte Schulkolleginnen von Constance, entdeckt, dass sie als Kind zusammen mit ihrem Bruder William von Zuhause ausgerissen war. Doch vor Gericht scheitert er letztlich, denn dem Anwalt Peter Edlin, der als Constances Verteidiger agiert, gelingt es, Whichers Beweisführung ins Lächerliche zu ziehen und auf berufsbedingten Übereifer des Polizisten zu spekulieren. Constance wird freigesprochen. Jonathan Whichers Ansehen als Ermittler ist ruiniert. Ein Schaden, von dem sich der Polizist nie wieder richtig erholen konnte. Als Constance Kent fünf Jahre später den Mord an Saville gesteht, ist Whicher schon nicht mehr im Dienste der Polizei.

Weiblicher Wahnsinn

Mord, so zeigt es Kate Summerscale, zerstört nicht nur das Leben des Opfers, er greift in das Leben viele Menschen ein. Elizabeth Gough, das Kindermächen, verlor durch die unberechtigten Anschuldigungen gegen sie ihren Beruf und verarmte. Die Familie Kent musste recht bald nach dem Mord Road Hill House verlassen und Jonathan Whicher schließlich gab seine Arbeit bei der Kriminalpolizei auf. Die Autorin zeichnet auf sensible Art eine Familientragödie nach, die eben nicht nur die Familie, sondern viele weitere Menschen betraf. Eine Familientragödie, die zudem in vielen, durchaus bedeutenden Werken der Literatur, ihren Niederschlag fand. Da ist etwa Jonathan Whicher, der blumenliebende Ermittler, dem Wilkie Collins in seinem Kriminalroman “Der Monddiamant“ in der Figur des Sergeant Cuff ein Denkmal gesetzt hat. Da ist das Geschwisterpaar Constance und William, die ihre Spuren in Charles Dickens unvollendetem Roman “Das Geheimnis des Edwin Drood“ als geheimnisvolles, “wildes“ Geschwisterpaar hinterlassen haben. Und schließlich ist da der vergessene Sensationsroman “Lady Audley’s Geheimnis“ von Mary Elizabeth Braddon, in dem eine böse Stiefmutter, ein brutaler Mord in einem Landhaus und eine Leiche in einem Brunnen eine Rolle spielen. Summerscale verdeutlicht, dass alle Frauenfiguren des Romans Aspekte von Constance Kent aufweisen: die möglicherweise wahnsinnige Mörderin Lady Audley, die temperamentvolle Tochter Alicia, die störrische Zofe Phoebe Marks und die einsame Clara Talboys, die Schwester des Ermordeten. Auch Jonathan Whicher bekommt als unglücklich agierender Amateurdetektiv Rober Audley seine literarische Entsprechung. “Lady Audley’s Geheimnis“, dessen erste Folge am 6. Juli 1861 veröffentlicht wurde, entwickelte sich ein Jahr nach dem Mord in Road Hill House, zu einem Bestseller. Summerscale zeigt auf, wie ein reales – und bis dahin ungeklärtes – Verbrechen, Einzug in die Literatur hielt.

Andererseits wurde auch die journalistische Darstellung des Mordfalls Kent und seine Aufnahme durch die Öffentlichkeit durch Sensationsromane beeinflusst. Constance Kent wurde immer wieder unterstellt, sie leide an Wahnsinn, den sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt habe. Doch weiblicher Wahnsinn war seit einiger Zeit in aller Munde. Kurz nach dem Mord im Sommer 1860 war gerade die dreiunddreißigste Folge von Wilkie Collins Roman “Die Frau in Weiß“ erschienen. Ein Sensationsroman, in dem unter anderem eine junge Frau unter dem Vorwand ihrer Geisteskrankheit – die natürlich nicht wirklich existierte – weg gesperrt wurde. Auch Charlotte Brontë und ihr Klassiker “Jane Eyre“ von 1847, in dem eine geistesgestörte Frau von ihrem Ehemann in einem Zimmer eingeschlossen wird, haben das damalige Lesepublikum für die Thematik der weiblichen Geisteskrankheit sensibilisiert. Summerscale erläutert in einer klaren Sprache, angereichert mit vielen Belegen, die wechselseitigen Verbindungen zwischen Literatur und Kriminalität. Sie versteht es, ihre umfangreichen Rechercheergebnisse in eine spannende, nicht-fiktionale Erzählung zu fassen, ohne dabei staubtrockenen Geschichts- oder Literaturunterricht zu geben. Es ist verdienstvoll, dass sie auf platte Parallelen verzichtet, dafür die Komplexität sowohl des realen Falls wie auch der journalistischen und literarischen Verarbeitung anschaulich und lebendig erzählt. Auch werden Opfer, Angehörige und Ermittler nie zu reiner Staffage degradiert – wie man es leider oft aus so manchem Kriminalroman kennt – sondern als Menschen ernst genommen.

Nicht zuletzt die Darstellung der Polizei, ihrer Organisation, ihrer Entwicklung und ihrem Ansehen in der Bevölkerung ist Summerscale geglückt. Die Kriminalpolizei, der ein Jonathan Whicher angehörte, wurde von den englischen Bürgern mit sehr viel Argwohn betrachtet. Polizisten in Zivil wurden als Spione des Staates angesehen, die in den Privatangelegenheiten der Bürger herumschnüffeln. Gerade die viktorianische Gesellschaft hatte, auch aufgrund ihrer moralischen An- und Widersprüche, damit so ihrer Probleme. Das ein offenbar kluger Mann wie Jonathan Whicher durch misslungene Ermittlungen im Mordfall des kleinen Saville sein Ansehen einbüßt, ist eine Tragik, die sich noch heute in vielen literarischen Polizistenfiguren wiederfindet. Damit wird der reale Whicher fast schon zu einem Archetypus der modernen Ermittlerfigur, an der sich interessanterweise nicht viel verändert hat. Kate Summerscale liefert spannende Einblicke in einen Mordfall, der großen Einfluss auf Literatur und Journalismus gehabt hat und der sich bis heute auf die Gestaltung und Wahrnehmung von bestimmter Kriminalliteratur – vor allem der sogenannten “Landhauskrimis“ – auswirkt. Faszinierend.

Kate Summerscale: Der Verdacht des Mr. Whicher oder Der Mord von Road Hill House / Aus dem Englischen von Alice Jakubeit. – Berlin : Bloomsbury, 2008
ISBN 978-3-8270-0778-0

Originalausgabe: Kate Summerscale: The Suspicions of Mr. Whicher or The Murder at Road Hill House. – London : Bloomsbury Publishing, 2008

Link:
→ mrwhicher.com – Homepage zum Buch

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