Familiärer Schrecken
vom Krimiblogger
Barbara Vine: Aus der Welt
Das ländliche Essex Ende der 1960er Jahre: Die junge Schwedin Kerstin Kvist nimmt eine Stellung bei der Familie Cosway an. Auf deren Landsitz Lydstep Old Hall leben neben dem Familienoberhaupt Julia Cosway noch ihre drei unverheirateten Töchter Ida, Ella und Winifred sowie der psychisch kranke Sohn John. Der 39-jährige Mann sei schizophren, wird von Mrs. Cosway behauptet, und da sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters die Pflege des Mannes nicht mehr vollständig übernehmen kann, soll Kerstin ihn betreuen. Als gelernter Krankenschwester kommen der jungen Schwedin jedoch schon recht bald Zweifel an der Diagnose des Hausarztes Dr. Lombard, der nicht nur der Liebhaber von Julia Cosway, sondern auch der uneheliche Vater von Julia Cosways vierter Tochter Zorah ist. Es wird nicht das letzte Familiengeheimnis bleiben, dem Kerstin auf der Spur ist.
Je länger Kerstin, die eigentlich nur aus Liebe zu ihrem Freund Mark nach England gekommen ist, im düsteren Landhaus der Familie Cosway lebt, desto eigenwilliger und verdrehter erscheinen ihr die Familienmitglieder. Da ist die bereits verwitwete Zorah, die ihren Hass auf ihre Mutter und ihren leiblichen Vater Dr. Lombard nur schwer zügeln kann. Zorah, eigentlich das schwarze Schaf der Familie, konnte sich durch eine günstige Heirat früh aus den familiären Klauen befreien, ist nach dem Tod ihres Mannes finanziell unabhängig und nutzt nun jede Gelegenheit, ihre Mutter zu demütigen. Julia Cosway wiederum schikaniert ihre Töchter, die noch in ihrem Hause leben. So fristet Ida in dem düsteren Gemäuer das Dasein einer Dienstmagd. Ella und Winifred liegen ständig im Streit und lieben, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt, den gleichen Mann. Schließlich ist da noch der stille John, der mit Medikamenten, die ihm Dr. Lombard verschreibt und die ihm von seiner Mutter vehement verabreicht werden, ruhig gestellt wird.
Dieser alltägliche Wahnsinn, an den sich Kerstin nicht gewöhnen kann und deren Gründe sie erst nach und nach erkundet, findet zunächst ein Ende, als die Matriarchin Julia Cosway auf der Treppe stürzt – angeblich geschubst von ihrem Sohn John – und für einige Zeit im Krankenhaus liegen muss. In dieser Zeit widersetzt sich John der Einnahme der verordneten Medizin und Kerstin unterstützt ihn dabei, schließlich hegt sie Zweifel an der Diagnose Schizophrenie. John kann mit Hilfe von Kerstin seine alte Gewohnheit wieder aufnehmen: Stundenlang verbringt er in der Bibliothek des Landhauses, die wie ein Labyrinth angeordnet ist. In dieser Abgeschiedenheit löst er schwierigste mathematische Probleme, während sich die anderen Familienmitglieder weiter einen täglichen Psychokrieg leisten. Als die Mutter wieder aus dem Krankenhaus kommt, nehmen die Spannungen immer mehr zu und ein erbitterter Streit um eine Druse führt sogar zu einem Todesopfer.
Fein dosierter Psychohorror
Barbara Vine, das Pseudonym von Ruth Rendell, unter dem sie bislang elf psychologische Romane veröffentlicht hat, erweist sich auch im zwölften Band als versierte Schöpferin von eigenwilligen Figuren. Deren Gegensätze und seelischen Abgründe, ihre alltäglichen Gemeinheiten, ihre verbalen Verletzungen und Scharmüzel, treiben das erzählerische Tempo stetig und mit einer sanften Steigerung voran. Verstärkt wird dieser fein dosierte Psychohorror noch durch die Zeit und den Ort, an dem Barbara Vine ihre Geschichte spielen lässt. Während im London der „Swinging Sixties“ der Minirock, die Beatles und die sexuelle Revolution das Geschehen bestimmen, ticken die Uhren auf dem Lande anders. Gesellschaftlicher Stand und verlogene Moralvorstellungen sind hier wichtiger als persönliche Entfaltung. Die Kulisse von Lydstep Old Hall, mit seinen verschlossenen Türen und dem geheimnisvollen Bibliothekslabyrinth, verstärkt diesen zeitlichen Bruch noch einmal. Das Kerstin im Roman englische Klassiker wie „Die Frau in Weiß“, „Jane Eyre“ oder „Große Erwartungen“ liest oder erwähnt, ist sicherlich kein Zufall. Verstärken sie doch – wenn auch wenig elegant – die düstere Grundstimmung.
Im Vordergrund stellt die Autorin aber ihre Figuren, die ihr Leid und ihren Schrecken aus sich selbst zu schöpfen scheinen. Der alltägliche Familienterror und die ständig spürbare Abneigung zu einander – bei Barbara Vine kommen sie nicht von außen, zumindest nicht primär. Sie sind in den Figuren fast schon unüberwindbar angelegt und steuern direkt auf eine Katastrophe zu. Nur das Eingreifen von außen, in diesem Fall durch die junge Schwedin Kerstin, scheint Bewegung in die starren Fronten zu bringen. Allerdings mit der Gefahr, dass dies Kräfte freisetzt, die nicht mehr kontrollierbar sind. Somit ist „Aus der Welt“ kein Psychothriller oder -krimi, aber es ist eine anregende und dichte Studie über eine zerstörte Familie, die hilflos mit ansehen muss, wie ihre Fassade nach und nach bröckelt und wie einige ihrer Mitglieder daran zugrunde gehen.
Barbara Vine: Aus der Welt. – Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. – Zürich : Diogenes, 2007
ISBN 978-3-257-06550-3Originalausgabe: Barbara Vine: The Minotaur. – London : Viking Penguin, 2005
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Kommentare
Oh ja, Barbara Vine. Ich habe zwei ihrer ersten drei Bücher gelesen: „Die im Dunklen sieht man doch“ und „Das Haus der Stufen“. Die bieden gehören sicher zu den besten Büchern, die ich jemals gelesen habe. Ich glaube, diese Frau kann nichts falsch machen.
Schön, mal wieder von Dir zu lesen. Als Ruth Rendell überzeugt sie mich nicht, die Barbara-Vine-Romane sind jedoch wirklich gut (bis auf ein paar Ausnahmen).
Liebe Grüße aus dem Norden
Ludger
„Die im Dunklen sieht man doch“ handelt von zwei Schwestern, oder bin ich da total auf dem Holzweg? Kann mich vage an eine sehr düstere und ungemein spannende Geschichte erinnern. Sag mal Ludger, lest ihr alle Bücher, bevor ihr sie hier reinstellt selber? Viele Grüße…
Hallo,
an „Die im Dunkeln sieht man doch“, dem ersten Roman von Barbara Vine, kann ich mich nur noch sehr bruchstückhaft erinnern, ich habe es vor 17 Jahren gelesen. Ich erinner mich nur noch an die Vollstreckung eines Todesurteils an einer Frau. Das zwei Schwestern mitspielen kann schon sein, Vine setzt sich ja oft mit Familien auseinander.
Lesen: Ja, in der Regel lese ich die hier vorgestellen Bücher selbst. Mein Problem derzeit ist, dass ich mit dem Schreiben nicht nachkomme 😉
Liebe Grüße
Ludger
Mit „die Frau“ meinte ich nur Vine und nicht Rendell, von letzterer habe ich noch nichts gelesen (ja, ich weiß, dass es ein und dieselbe Person sind, aber ich repsektiere den Wunsch nach mehreren Persönlichleiten). Nachdem Rendell aber von zwei Frauen gutgefunden wird, die ich sehr schätze — Astrid Paprotta und meine Freundin –, werde ich wohl doch irgendwann eines ihrer Bücher ausprobieren.
ich schätze barbara vine auch. das ist so eine autorin, die keine LUST auf humor hat.
Es gibt da eine recht interessante Liste des Syndikats aus dem Jahr 2002 mit Krimiempfehlungen aus 2 Jahrhunderten; ermittelt durch eine Befragung der Mitglieder des Syndikats. Natürlich befinden sich mehrere Bücher Ruth Rendells und Barbara Vines auf der Liste. Aus neuerer Zeit (seit 1984) ist nur ein einziges Buch von Rendell (jedoch mehrere von Vine) benannt: „Die Besucherin“ (engl. Simisola). Ein Büchlein mit dem sie auch mich damals davon überzeugt hatte, dass sie es kann.
Es ist ein Roman aus der Wexford Reihe. Die Tochter eines Hausarztes ist plötzlich verschwunden, schlimmstes wird befürchtet und Wexford soll sie suchen. Nun ja, vom Rätsel und der Spannung ist es so lala. Interessant wird es durch den Hausarzt. Der ist neu in den Ort gezogen und dunkelhäutig. Der liberale und aufgeklärte Wexford (und mit ihm der Leser) ertappt sich immer wieder dabei, über seine eigene Erwartungshaltungen zu stolpern.
Beste Grüße
bernd