Heureka! Kritik der Kritik
vom Krimiblogger
„Kleiner staubtrockener, humorloser und kondensierter Kriterienkatalog für idealtypische, anständige Rezensionen von Kriminalromanen“ nennt sich ein → schöner Leitfaden von Thomas Wörtche, der an → anderer Stelle auch schon mal gerne als Pausenclown attakiert wird. Noch übler wird da übrigens mein Lieblingsblog-Kollege dpr heruntergeputzt, was übrigens zeigt, wie trost- und humorlos es in Bielefeld, jenem geheimnisvollen Ort, sein kann. Wie überlebt dort eigentlich ein kleiner Krimiverlag wie → Pendragon?
Jedenfalls wird es mal Zeit für die Kritik der Kritik und Kritiker. Der erste, erschütternde Befund: Erstzunehmende Kritikerinnen gibt es da nicht, jedenfalls nicht im deutschsprachigen Raum. Was die Männer da so treiben – dazu später mehr.
Kommentare
Bezeichnend ist auch, dass in besagter „Polemik“ sich ein Kritiker wie Frank Rumpel nur deshalb als „unfähiger Autor“ wiederfindet, weil er mal statt „Südafrika“ „Süd-Afrika“ geschrieben hat. Wie soll man so etwas nennen?
bye
dpr
Auch wenn ich die Grundannahme des Wörtchetextes grundsätzlich teile, dass Krimis eine starke Erdung an die Realität haben, muss ich sagen, dass ich beim Lesen des Textes immer so einen kleinen JL im Kopf hatte, der mir zu zu flüsterte, dass das nicht unbedingt richtig ist.
Wie stark diese Erdung sein sollte, definiert TW ja nicht. Dafür stehen dort die schönen Sätze: „Er muß sich in Realitäten auskennen. Kriminalliteratur besteht nur zu einem Teil aus Literatur. Der andere Teil hängt von der Welt ab, in der sie spielt.“ Das ist, glaube ich, entscheidend, vor allem wenn man es in Beziehung zu dem allerersten Satz „Die Rezension eines Kriminalromans stellt [den] gedachten Roman an seinen richtigen Ort. Historisch, systematisch und wertend.“ setzt. („den“ habe ich mutwillig hinzugefügt). Will man eine Ortsbegehung der Realität der Literatur unternehmen – was Kritik auch sein soll – dann sicher am besten mit einem kundigen Führer, der sich in beiden Welten auskennt.
Daher halte ich diese These von TW schon für sinnvoll.
Liebe Grüße
Ludger
Kurze Anmerkung, weil ich just in Wörtches Realitätsrevier wildere: Ich bin mir ziemlich sicher, dass TW zuvörderst die Wirklichkeit des Verbrechens meint und damit den Umstand, dass die genreübliche Definition eines Verbrechens (A tötet B, dramatische Ermittlung, Überführung)der Wirklichkeit längst nur noch ein müdes Lächeln entlockt (siehe Mafia, siehe →TWs Anmerkungen dazu). Die WIRKLICH großen und perfekten Verbrechen sind viel zu nüchtern und abstrakt, um eins zu eins in Krimis geschildert werden zu können. Dass die globalisierte Rohstoffmafia Kriege in Afrika anzettelt, etwa. Oder der große Crash des „Neuen Marktes“, bei dem, so der allgemeine Sprachverbrauch, „Geld vernichtet“ wurde…als hätte es irgendwer durch den Häksler geschickt und wäre es nicht in diversen Taschen gelandet…überhaupt alles, was zur Zeit im Namen von Globalisierung und Privatisierung an Verbrechen geschieht…völlig legal zumeist, vom Staat unterstützt…diese Wirklichkeit entzieht sich den Krimiklischees, ist einfach zu langweilig für die Krimimimi.
AutorInnen befinden sich also in einem Dilemma: Wenn sie die herkömmlichen Krimistrukturen hochhalten, schreiben sie an der Wirklichkeit des Verbrechens vorbei. Versuchen sie hingegen, diese Wirklichkeit zu fassen, schreiben sie an Lesern und Kritik vorbei…Gefragt sind also Strategien, die beiden Seiten gerecht werden.
bye
dpr
Das Dilemma, lieber dpr,
dass die Realität immer schon viel weiter ist, als sie von Autoren gedacht werden kann, hatte schon Doris Lessing, in einem anderen Zusammenhang natürlich, beklagt.
Mit TWs Text hat das aber erst einmal wenig zu tun. Der fordert Kongenialität ein, und verordnet dem Krimi (soweit ich TWs Texte kenne, nicht das erste mal) Realitätstüchtigkeit.
Beste Grüße
bernd
Stimmt schon, Bernd, und das ist auch der Grund, warum ich das Gerede vom „War alles schon mal da, gibt nix mehr Neues beim Krimi“ für genau das halte: für Gerede. Die Herausforderung heißt: dranbleiben an den Entwicklungen der Realität des Verbrechens. Die ja wiederum kein abgeschotteter Bezirk ist, sondern mit dem Alltäglichen, dem Gesellschaftlich-Politischen zusammenhängt. Genreentwicklung meint also vor allem Wirklichkeitsforschung. Und wirkt sich, nebenbei, nicht nur inhaltlich aus, sondern auch stilistisch und dramaturgisch.
bye
dpr
Lieber dpr,
es ist interessant, dass Du zwischen wirklich großen Verbrechen und – ja was eigentlich? Kleine Verbrechen? – unterscheidest. Organisierte Kriminalität, globalisiertes Verbrechen, Geldwäsche, legalisierter Rohstoffklau usw. – all das findet schon in Kriminalliteratur statt, in der Regel aber sehr verzerrt, man denke nur an die Mafia-Schmöker/Filme/Comics. Mit Realität hat das – meistens – nicht viel zu tun. Die Komplexität des Themas – wer kann schon legalen cash flow vom illegalen unterscheiden? – ist dabei aber wohl weniger das Problem für die Literatur. Es gibt auch das Erzählen „pars pro toto“ – wie es etwa Lena Blaudez zum Thema Ausbeutung, Krieg und Coltan-Abbau getan hat.
Das Dilemma der Autoren besteht nicht darin, ob sie sich zwischen herkömmlichen Krimistrukturen oder der Erfassung von Wirklichkeit und somit gegen die Leser entscheiden müssen. Es fehlen ihnen bislang überhaupt ästhetische Möglichkeiten und Konzepte, dies umzusetzten bzw. sie machen sich oftmals gar nicht die Mühe, neue Wege zu beschreiten. All diese „Veränderungen“ im Erzählen von Kriminalliteratur – was uns ja schon mal in Zusammenhang mit einem Gohlis-Artikel beschäftigte – all dieses Aufbrechen von Krimierzählstrukturen ist doch meistens großer Quark. Wenn man genau hinschaut ist es eine leichte bis mittelschwere Variation von bereits eingeübten und ausprobierten Erzählmethoden. Wenn etwa Andrea Maria Schenkels Romane nun als sensationell „neu“ gepusht werden, ist das doch reichlich albern – ohne Frau Schenkel absprechen zu wollen, gute Krimis zu schreiben, allerdings im Rahmen bislang bewährter und vorhandener Strukturen. Dafür ist man – angesichts der Dilettanten-Schwemme – ja auch schon dankbar.
Der Vorwurf, dass wir – die Leser, Hörer und Zuschauer – die Realität gar nicht wissen wollen, noch nicht einmal in einer bestimmten Form von Fiktion, läuft allerdings in meinen Augen ins Leere. Zum einen zweifele ich daran, ob dies die Hauptfunktion von belletristischer, schöngeistiger Literatur sein kann. Überfrachtet man sie da nicht sehr arg – sozusagen Literatur für eine, wenn schon nicht besseres, so doch wachere Welt? Und wenn doch, wie soll die aussehen ohne ästhetisch langweilig zu werden und den Charme etwa von „Arbeiterliteratur“ anzunehmen, wie wir sie noch aus DDR-Zeiten kennen? Überhaupt: Ist das nicht ebenso eine Funktionalisierung von Literatur, nur eben von der anderen Seite? Hier die moralisch sauberen Zeigefinger-Romane (oder auch hoffnungslos politisch unkorrekt), in denen man auf das Elend und den Dreck der Welt gestoßen wird – dort die eskapistischen Gruselschocker, deren einziger Sinn darin besteht, uns für ein paar Stunden Geisterbahn fahren zulassen um nachher feststellen zu können, dass es nur den guten Helden braucht, der die Welt wieder zusammenfügt.
Interessant finde ich, dass sich bei beiden nach der Lektüre folgendes Fazit einstellen könnte: Mir geht’s ja noch golden. Weder bin ich Coltan-Schürfer in Afrika, noch haust der durchgeknallte Serienkiller bei mir um die Ecke. Alles wird gut – hoffentlich. Und ich kann mich meinem täglichen Überlebenskampf stellen, der natürlich bei weitem nicht so furchtbar ist, wie der des Coltan-Schürfers und mit dem ich mich nun überhaupt nicht vergleichen will. Gleichzeitig bin ich aber auch froh, dass meine alltäglichen Albträume eine Projektion bekommen haben – der durchgeknallte Serienkiller – an dem ich mich abarbeiten kann und so etwas für meine Seelenhygiene tue.
Und es ist ja nicht so, dass die „Sopranos“ oder „The Shield“ nun gar nicht gesehen wurden. Eine Minderheit, ganz klar. Es ist doch auffällig: Beide Serien waren bzw. sind in den USA deutlich erfolgreicher als bei uns, was auch etwas über us-amerikanische und deutsche Sehbefindlichkeiten aussagt. In dem Land der Brüder Grimm und der entsetzlichen Greultaten der Nazis, in diesem Land der Dichter und Henker, der Geistesgrößen und Geistesgestörten, mag man es vielleicht „märchenhafter“ und „realitätsflüchtiger“ als in einem Land, in dem Gewalt und der Umgang mit ihr eine ganz andere Tradition hat.
Liebe Grüße
Ludger
Lieber Ludger,
es geht nicht um „das Aufbrechen von Krimierzählstrukturen“, sondern um den Versuch, einer sich ständig ändernden Wirklichkeit durch größere strukturelle Flexibilität gerecht zu werden. Literaturgeschichtlich ist das ein alter Hut; die literarischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts waren Konsequenzen der gesellschaftlichen Veränderungen, der Expressionismus Reaktion auf den Wahnwitz der Zeit um den 1. Weltkrieg etc. Literatur, die nicht versucht, auf sich verändernde Wirklichkeiten zu reagieren, ist anachronististisch. Fatalerweise hätte man deine Argumentation auch gebrauchen können, um gegen die Neuerungen zu protestieren, die von Hammett über Glauser bis Himes oder Raymond die KL verändert haben. Übrigens waren all diese „Verstöße gegen den common sense“ schlichtweg der Einsicht geschuldet, dass die etablierte KL nicht mehr in der Lage war, die Wirklichkeit adäquat zu reflektieren. Es geht dabei nicht um „die bessere Welt“ – in unserer Abneigung gegen Botschaftenliteratur sind wir uns ja sehr einig. Es geht um den Versuch von Abbildung, was immer noch das Höchste ist, was Literatur schaffen kann und jemals geschafft hat. Ja, eigentlich sehe ich in Literatur überhaupt keinen anderen Sinn als den, die Welt abzubilden. Ich lasse mich ja auch gerne unterhalten, so ist das nicht, und dass ich mich im Zweifelsfall immer für die Unterhaltungsliteratur und gegen elitäre Selbstbefriedigung entscheiden würde, steht fest (übrigens: der Unterhaltungsschriftsteller Kempowski ist tot; wir erheben uns von unseren Plätzen; großer Mann, das!).
Dass etwa Lena Blaudez den Coltran-Skandal pars pro toto in die KL eingeführt hat, ist mehr als verdienstvoll. Letztlich ist aber auch das nur eine Annäherung an die Wirklichkeit, weil hier das für die KL Unerzählbare (weil DRAMATURGISCH mit den Mitteln des Genres nicht zu Fassende) durch Kunstgriffe gefügig gemacht wird, die die Wirklichkeit unweigerlich verzerren. Noch einmal: Hut ab. Es ist ein ehrenwerter Versuch, zeigt aber auch, wie dringend nötig es ist, die Werkzeuge flexibler zu gestalten. Ich bin weit davon entfernt, Lösungen anbieten zu können. Ich beobachte nur die Geschichte der KL und stelle fest, dass es immer wieder gelungen ist, das Genre an die Wirklichkeit heranzuführen (nee, nicht Frau Schenkel). Und das wird wieder geschehen. GEGEN zeitgenössische Leser und Kritiker. Auch das ist ein alter Hut. Christie und Co. dürfen wir ja, just for fun, auch weiterhin lesen, keine Sorge…
bye
dpr
[…] Krimikritiker und ehedem Herausgeber von metro -> meldet sich in Europolar zu Wort (Dank an Ludger Menke). Um die Kritiker von Krimi geht es ihm. So schreibt er: “Die Rezension eines Kriminalromans […]
Lieber dpr,
all das will ich gar nicht bestreiten, ich stimmte Dir gerne zu. Literatur ist Annäherung an die Wirklichkeit.
„Fatalerweise hätte man deine Argumentation auch gebrauchen können, um gegen die Neuerungen zu protestieren, die von Hammett über Glauser bis Himes oder Raymond die KL verändert haben.“
Nein, das sehe ich nicht so und das war auch nicht meine Absicht. Worauf ich hinweisen wollte ist der Umstand, dass in der Kritik ständig von „Neuerungen“ in der Kriminalliteratur, insbesondere in der deutschsprachigen Kriminalliteratur, gesprochen wird, diese „Erneuerungen“ sich aber – wie Du es so schön sagst – als alter Hut herausstellen.
Selbstverständlich kann Literatur mit ihren Erzählstrukturen auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, d’accord. Sie tut es momentan, zumindest in der deutschsprachigen Literatur, kaum.
Und natürlich kann man die „Schuld“ auf uns Leser und Zuschauer schieben, die all diese Realität, oder die Abbildung der Realität, nicht sehen, hören und lesen wollen. Ja, vielleicht sind wir tatsächlich die Höhlenmensch aus dem Höhlengleichnis, die diejenigen töten werden, die sie aus der Höhle ans Sonnenlicht führen möchten.
Aber: Kriminalliteratur dürfte auch eine Idee von Kriminalität, von Verbrechen, vom Bösen enthalten, die sie nur enthalten kann, wenn sie die Realtität ernstnimmt und sich zugleich von ihr löst, um eine eigene, literarische Realität zu schaffen. Welche stilistischen, sprachlichen und dramaturgischen Möglichkeiten dazu nötig sind – dies herauszufinden ist die Aufgabe von Autoren.
Liebe Grüße
Ludger
[…] aus Chronistenpflicht, denn über den Artikel wurde schon im Krimiblog und bei m Krimileser diskutiert: Thomas Wörtche hat einen „Kleiner staubtrockener, humorloser […]