Leben schreiben

vom Krimiblogger

Mo Der Lebensroman des Friedrich GlauserFrank Göhre: MO – Der Lebensroman des Friedrich Glauser

Himbeersirupsätze. Manchmal ist es so ein Wort, das einem im Gedächnis bleibt. Ein Wort, das von Friedrich Glauser stammt oder stammen könnte. Der Hamburger Autor Frank Göhre lässt es in seinem Lebensroman „MO“ den Friedrich Glauser schreiben, in einer Tagebuchnotiz: „Die Wettbewerbsjury, die meine Geschichte abgelehnt hat, prämiert Himbeersirupsätze…“ Ob Glauser dies wirklich so geschrieben hat, könnte man überprüfen, in seinen nachgelassenen Dokumenten, in seinen Briefen, in seinen Notizheften. Aber überprüfbare Texte, Fakten oder Nachweise sind für den Romanbiografen Frank Göhre gar nicht so entscheidend. Göhre begegnet Glauser nicht als literaturwissenschaftliches Objekt, wie zum Beispiel Gerhard Saner, dessen 1981 erschienene Biografie akribisch den Lebenslauf des Schweizers mit Geburtsort Wien nachzeichnet, sondern Göhre sieht in Glauser einen – seinen – Zeitgenossen, einen Schriftstellerkollegen und vor allem einen Menschen, dem er sich literarisch annähert.

Notizen, Briefe, Erinnerungen – Friedrich Glauser hat viele Dokumente hinterlassen, die über sein Leben Auskunft geben und seine Biografie lässt sich – mit einigen Lücken – recht gut nachvollziehen. Geburt in Wien, früher Tod der Mutter, Konflikte mit dem Vater, Aufenthalt im Landerziehungsheim, Selbstmordversuch, Drogen, Morphium, Entzug, Bekanntschaft mit Dadaisten, zahlreiche Beziehungen zu Frauen, Aufenthalt in verschiedenen Kliniken und Irrenhäusern, Fremdenlegion, schriftstellerische Erfolge, „Wachmeister Studer“. Dazu Lebensstationen unter anderem in Wien, Preßburg, Genf, Zürich, Mannheim, Gourrama, Paris, Münsingen, Witzwil, Waldau, in der Bretagne und schließlich Tod in Nervi bei Genua. Alles dies und mehr innerhalb von 42 Lebensjahren. Wie also könnte man sich als Biograf einem solchen intensiven Leben, mit vielen Tiefpunkten, mit psychischen Krisen, Abhängigkeiten und einer unglaublichen Lebenssucht nähern? Frank Göhre findet in seiner Romanbiografie eine eigene, literarisch anspruchsvolle und sehr lesenswerte Antwort. Die reinen Fakten werden von ihm nicht verbogen, dienen als grobes Gerüst, bleiben aber Ausnahmen. Göhre erzählt das Leben des Friedrich Glauses chronologisch, vermeidet aber – entgegen den üblichen Gepflogenheiten von Biografen – Jahreszahlen oder Daten. Dennoch ist man als Leser nie verloren, weiß während der Lektüre jederzeit, im welchem Lebensstadium Frank Göhre den Menschen Glauser gerade begleitet.

Neugier und Wissen

Statt Zahlen verknüpft Göhre in einer Collage Bilder, Dialoge, Atmosphäre, Tagebucheinträge, Träume, Notizen, Krankenakten. Er bleibt immer nah am Original, bleibt immer nah an der Person, aber er nimmt sich die künstlerische Freiheit, Friedrich Glauser durch sich sprechen zu lassen. Ein wagemutiger Versuch der rundum gelingt, weil Frank Göhre ein kluger Kollege des Friedrich Glausers und ein Bruder im Geiste ist. Er findet klare, eindrucksvolle Bilder, durch die nach und nach ein Porträt des Schriftstellers, des Morphiumsüchtigen, des Liebhabers, des Sohnes, des psychisch Kranken entsteht. Ein Porträt, das vielleicht nicht jedes literarische Geheimnis des Schweizer Autors lüftet, das nicht verzweifelt für jedes geschriebene Wort eine biografische Entsprechung oder Erklärung sucht – das aber gerade dadurch dem Menschen Friedrich Glauser näher kommt, als es eine faktenreiche Biografie je vermag. Andererseits widerspricht Göhres Glauser-Roman auch jenen, die einer reinen werkimanenten Analyse das Wort reden. Wer nicht zumindest den Versuch unternimmt dem Menschen Glauser ein wenig näher zu kommen, dem wird sich auch dessen Werk, dem werden sich die Figur des Wachmeisters Studer, die Ereignisse in „Gourrama“, dem Roman aus der Fremdenlegion, oder die wundervollen Kriminalgeschichten wohl nicht gänzlich erschließen. Glausers Leben und Werk sind eng mit einander verknüpft, Göhre weißt noch einmal explizit am Ende seines Romans lakonisch darauf hin. Das Göhre jenen schwierigen Spagat zwischen Fakten und Fiktion, zwischen langjährigem Wissen und frischer Neugier auf den Autor Glauser so mühelos und elegant schafft, ist eine große, schriftstellerische Kunst.

Wer Texte von Glauser kannte, der wird sie nach der Lektüre von „MO“ sicher mit anderen Augen sehen und vermutlich auch noch einmal lesen wollen. Wem Glauser bislang nichts oder nur wenig sagt, dem bietet Frank Göhres Romanbiografie einen guten Einstieg in das Werk des Autors, der zu Recht als eine Leitfigur der deutschsprachigen Kriminalliteratur gilt. Kriminalliteratur, die angesichts der aktuellen, schaurig-schlechten Blut- und Busenthriller, der geschmacklosen Leichenschnippeleien und oberflächlichen Psychopornos fast schon vergessen scheint. Kriminalliteratur, bei dem der Mensch, das menschliche Drama und die psychologische Figurenführung im Mittelpunkt steht. Und schließlich Kriminalliteratur, die ohne Himbeersirupsätze auskommt. Noch eine Gemeinsamkeit: Himbeersirupsätze fehlen sowohl bei Friedrich Glauser als auch bei Frank Göhre.

Frank Göhre: Mo : Der Lebensroman des Friedrich Glauser. – Bielefeld : Pendragon, 2008
ISBN 978-3-86532-085-81

Buch bestellen bei:
» amazon.de » libri.de » buch24.de » buecher.de

Link:
→ Frank Göhre – offizielle Homepage