Jenseits der literarischen Luftschlösser

vom Krimiblogger

Der grüne ChineseDagmar Scharsich: Der grüne Chinese

Nach und nach entdeckt die Kriminalliteratur ihrer Wurzeln, besinnt sich auf ihre Geschichte. Autorinnen und Autoren wie Christie, Doyle oder Poe tauchten schon immer in Krimis über Krimis auf, sei es durch direkte oder indirekte Werkzitate, sei es durch mehr oder weniger gelungene Anspielungen auf die realen Personen der Autorinnen und Autoren. Hardboiled und Noir erleben derzeit die x-te fröhliche Wiedergeburt, was man durchaus skeptisch sehen kann. Der deutsche Krimi, dessen Tradition längst noch noch nicht aufgearbeitet und erschlossen ist, hinkt wie so oft hinterher. Um so schöner ist es, dass sich jetzt eine Autorin der deutschen Groschenromane angenommen hat. Nicht als literaturwissenschaftliche Abhandlung, nicht als soziologische Studie über das Leseverhalten des Publikums – sondern als spannender Krimi im Krimi, der sich ganz nebenbei auch mit der Problematik von Dichtung und Wahrheit in der Kriminalliteratur beschäftigt. Die Rede ist von Dagmar Scharsich, die mit “Der grüne Chinese“ ihren dritten Krimi vorgelegt hat. Was als skurrile Geschichte einer jungen Antiquarin im heutigen Berlin beginnt, entwickelt sich bald zu einem fesselnden Verschwörungsthriller im Gewand eines angeblichen Tagebuchs – verfasst zur Zeit von Kaiser Wilhelm II. – und spielt hauptsächlich ebenfalls in Berlin.

Ein altes Manuskript, wie könnte es anders sein, ist der Dreh- und Angelpunkt von Scharsichs Mischung aus historischem und gegenwärtigem Krimi. Am Anfang steht Marie Baer, die ein Antiquariat in Berlin-Mitte betreibt und vor allem von neugierigen Touristen lebt. Ihre Wohnung teilt sie mit ihrem liebenswerten Opa Willi, von dem sie das Antiquariat übernommen hat. Dann gibt es da noch Fritz, Autoverkäufer und künftige Ex-Freund von Marie, denn eine glückliche Beziehung sieht wohl anders aus. In puncto Männer wird sich einiges ändern, genau wie in Maries Berufsalltag. Der bekommt neuen Schwung, als eine Dame, von Marie kurzerhand mit dem Titel “Miss Portierszwiebel“ belegt, vier Groschenheftchen in ihrem Antiquariat vorbei bringt. “Baronesse Wanda von Brannburg. Deutschlands Meister Detectivin“ lautet der Titel der Serie, von der die Großmama von Miss Portierszwiebel noch viel mehr daheim haben soll. In Maries Antiquarinnen-Herz geht die Sonne auf. Als jene Großmama, die auf den schönen Namen Rose von Reventlow hört, jedoch beginnt die restlichen Groschenhefte der Müllabfuhr zu übergeben, schlägt Miss Portierszwiebel – mit bürgerlichem Namen Gesine – Alarm. Zusammen mit Marie will sie ihre Großmutter davon überzeugen, diese Hefte doch der jungen Antiquarin zu überlassen. Nach einigen Verwicklungen schafft Marie es tatsächlich die Päckchen mit den gesammelten “Criminal-Novellen aller Länder“ vor dem Reißwolf zu bewahren. Während Maries Opa über den Schund den Kopf schüttelt, freut sich Marie auf gute Geschäfte mit den begehrten Sammlerobjekten. Ausgerechnet Opa Willi ist es dann aber, der auf dem Einwickelpapier der Heftpäckchen eine Sütterlin-Handschrift entziffert. Die Bögen, in die der Schund die Jahre überdauert hat, stammen offenbar aus einem alten Tagebuch, geführt von der Baronesse Wendeline Sophie von Branndenburg, kurz Wanda genannt. Marie und Opa Willi werden zu kriminalistischen Lesern.

Die junge Wanda führt im Jahre 1909 das behütete Leben einer wohlhabenden Adeligen. Ihre jugendliche Aufsässigkeit und Neugier beschert ihr allerdings den ein oder anderen Konflikt mit ihrer Mutter. Wesentlich mehr Verständnis findet sie bei ihrer Tante Emmy und ihrem Onkel Gustav. Um so größer ist der Schreck, als Wanda eines Tages in das Schloss ihrer Verwandten gebeten wird. Emmy und Gustav sind kurzfristig verreist, wollen ihre Nichte aber in den nächsten Tagen im Schloss treffen. In der folgenden Nacht, die Wanda im Schloss verbringt, dringen Einbrecher in das Anwesen und jagen es mit Sprengstoff in die Luft. Wanda kann zusammen mit einigen Angestellten und Justus Hansen, dem Privatsekretär von Onkel Gustav, fliehen. Justus und Wanda finden Unterschlupf in der Berliner Stadtwohnung von Emmy und Gustav. Die allerdings sind wie vom Erdboden verschwunden. Dafür gibt es offenbar immer mehr dubiose Gestalten, die sich für die Forschungsarbeit von Onkel Gustav, der als Professor und Wissenschaftler an der Universität arbeitete, und für die Arbeit von Tante Emmy, die Artikel für die Zeitung “Die Zukunft“ verfasste und mit so fortschrittlichen Persönlichkeiten wie Bertha von Suttner verkehrte, interessieren. Ungebetene Gäste durchwühlen die Stadtwohnung und vernichten eine Laboreinrichtung des Professors. Schließlich spricht ein merkwürdiger Zeichner und “Criminalreporter“ bei Wanda und Justus vor. Er behauptet, Emmy und Gustav seien tot und ihre Leichen würden in Hamburg liegen. Wanda und Justus machen sich auf den Weg an die Elbe und bringen sich durch ihre Nachforschungen selbst in Gefahr.

Feine Fabulierlust

Über all diesen Ereignissen schwebt im wahrsten Sinne des Wortes ein Zeppelin. Während Wanda und Justus sich um ihre Verwandten sorgen, dreht zum ersten Mal das Luftschiff des Grafens am Himmel von Berlin seine Runden. Schon bald stellt sich heraus, dass es Verbindungen zwischen diesem Luftschiff und Emmy sowie Gustav gibt. Denn Emmy hat nach dem schrecklichen Unglück eines Zeppelins in Echterdingen eine Entdeckung gemacht, die solche Unglücke in Zukunft verhindern könnten. Und auch Gustav hat bei seiner Forschungsarbeit etwas zu Tage gefördert, was die noch junge Luftschifffahrt sicherer machen könnte. Doch genau dieses Wissen könnte ihnen zum Verhängnis geworden sein.

Dagmar Scharsich verzichtet auf das übliche Make-up, das so manche historische Kriminalromane reichlich auflegen, um mögliche Anachronismen zu übertünchen. Sie gesteht in einer Nachbemerkung sogar, bestimmte reale Ereignisse zeitlich auf wenige Tage im August und September 1909 verdichtet zu haben, obwohl sie in Wirklichkeit viel später geschehen sind. Schon hier zeigt sich deutlich, das geschichtliche Fakten bei historischen Romanen zwar wichtig sind, der literarischen Erzählung aber untergeordnet werden können und sogar müssen. Bei Scharsich hat sich das in der Tat gelohnt, denn ihre fein gesponnene Doppelgeschichte von Marie und Wanda lebt von einer dichten Dramaturgie, einer schnörkellosen und leuchtenden Sprache und von ihren herrlich menschlichen Figuren. Sie treiben die Geschichten an, ihnen folgt man als Leser gerne – sowohl in das wilhelminische wie auch in das heutige Berlin.

Durch die kluge und gekonnte Verwebung von Heute und Gestern schafft es Dagmar Scharsich außerdem, eine spannungsgeladene Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion zu schaffen, an der es vielen historischen Kriminalromanen mangelt. Während Marie Wandas Geschichte für eine wahre Begebenheit hält (und eisern für ihre These streitet), zeigt sich ihr Opa Willi davon überzeugt, dass Wandas Geschichte nichts anderes als ein unvollendetes Manuskript für einen Roman darstellt. Den Leser durch andere, fiktive Leser zu einer Geschichte zu leiten ist nicht unbedingt neu, aber ein kluger und effektiver Trick aus dem Zauberkasten einer guten Schriftstellerin. Mehr noch: Scharsich schafft es sogar dadurch eine wundervolle, milde Ironie in jene unsägliche Diskussion über Wirklichkeit und Literatur zu bringen. Statt aufwändig recherchierte Details in die Breite zu walzen – was historische Kriminalromane oft zu staubtrockenem Geschichtsuntericht verkommen lässt – füllt sie ihre Erzählung, die in der Wirklichkeit geerdet ist, ihre Blüten aber dank der feinen und farbenfrohen Fabulierlust der Autorin zu lesenswerter Fiktion treiben lässt, mit Leben. Eine Fiktion, die es jenseits so mancher literarischer Luftschlösser schafft, der wilhelminischen Epoche und der brodelnden Stadt Berlin mit ihrem Fortschrittsglauben und ihren Hinterhöfen, mit ihrer Kriegstreiberei und ihren preußischen Tugenden, ihrer Moral und ihrer Machtbessenheit eine neue und nicht ideologisch besetzte Facette abzugewinnen. Dagmar Scharsich zeigt einmal mehr, dass sie eine Autorin ist, die nicht nur ihren eigenen und originellen Stil gefunden hat, sondern die sich vor allem einem verpflichtet fühlt: Der Wahrheit ihrer Erzählung. Das ist wunderbar und leider viel zu selten anzutreffen im deutschen Kriminalroman.

Dagmar Scharsich: Der grüne Chinese. – Hamburg : Argument Verlag, 2008
ISBN 978-3-86754-180-0
(Ariadne Krimi; 1180)

Link
Internetseite zum Buch mit vielen Hintergrundinformationen, zusätzlichen Texten und historischen Fotos: www.dergruenechinese.de

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