Wechselspiele der Wirklichkeit

vom Krimiblogger

Yagudins RückkehrPhilippe Ségur: Yagudins Rückkehr

Zehn Tage nach den verheerenden Anschlägen des 11. Septembers 2001 ereignet sich am Freitag, dem 21. September 2001, gegen 10.18 Uhr im französischen Toulouse eine furchtbare Explosion in der Chemiefabrik AZF. 29 Menschen wurden getötet, 34 lebensgefährlich verletzt, über 2.400 Menschen erlitten Schnittverletzungen durch herumfliegende Glassplitter. Ein Unglück, wie die Behörden recht schnell versichern – angesichts der allgemeinen Terror-Hysterie im Herbst 2001 kein Wunder. Eine Explosion, die das Leben von Nils Immarskjöld Dugay in seinen Grundfesten erschütterte. Ein Leben, das bislang eher langweilig und eintönig verlief. Dugay arbeitet als angesehener Rechtsprofessor an der Universität in Toulouse und führt zusammen mit seiner Frau Alice und seinen beiden Töchtern Marnie und Émeline ein beschauliches Familienleben.

Abends erzählt Dugay seinen Töchtern gruselige und grausame Geschichten vom Mörder Yagudin, einer norwegischen Sagengestalt. Gehasst und gejagt vom norwegischen König, zieht Yagudin mordend und schändend durch das Land, verbreitet Angst und Schrecken. Er lockt seine Verfolger in die nordische Eiswüste, wo er sie von Bären jagen und schließlich erfrieren lässt. Yagudin verfügt über Macht. Soviel Macht, dass Yagudin auch in Dugays Leben immer mehr Einfluss gewinnt. Es fängt harmlos an: Plötzlich passen dem Professor die Schuhe nicht mehr, seine Kleidung wird zu eng, seine Stirn wird größer. Dann beginnen die anonymen Anrufe und Drohbriefe. Das so beschauliche Leben gerät aus den Fugen, als sich der Professor – ganz gegen seinen Willen – in eine junge Studentin verliebt und ein Rendezvous mit ihr hat. Als schließlich im weit entfernten New York die beiden Flugzeuge ins World Trade Center fliegen, steht Dugay vor einem geheimnisvollen Haus, in dem ein gewisser Yagudin wohnen soll. Zehn Tage später verliert er alles, was ihm lieb ist: Seine Frau und seine beiden Töchter.

Eine düstere, schaurige und phantastische Geschichte, die der Rechtsprofessor Philippe Ségur mit „Yagudins Rückkehr“ zu Papier gebracht hat. Seine Figur des Dugay ist ein Durchschnittsmensch, den der Autor durchschnittlich schildert – wären da nicht immer wieder kurze Sätze, die wie feste, harte Hammerschläge den Erzählrhythmus unterbrechen und wunderbar verstörend wirken. Eine lakonisch und kurzweilige Geschichte über Alltag und Imagination, über Moderne und Mythen, über den Eskapismus und seine Gefährlichkeit. Dugay verstrickt sich – ähnlich wie so manche Highsmith-Figur – in den Lügen seiner eigenen Phantasie, aus der es schließlich kein Entkommen gibt. Ségur erzählt eine Geschichte, die immer mehr an Tempo und Fahrt gewinnt und schließlich ein furioses, grausames und ernüchterndes Ende haben wird, eine Auflösung, die sicher manchen Leser wütend zurück lässt. So ist das also, mag man am Ende denken. Ein dummes Ende, ein phantasieloses Ende, mit einem dummen Wortspiel. Allein dafür wünscht man dem Autor den bösen Yagudin an den Hals. Sehr, sehr schade, denn Ségur hat bis auf die letzten Seiten einen spannenden und aufregenden Roman über die Wechselspiele von Phantasie und Wirklichkeit geschrieben. Am Ende holt den Leser die Wirklichkeit ein – und die ist nicht wirklich interessant, sondern medizinisch. Warum? Lesen Sie selbst.

P.S.: Das Bild auf dem Buchumschlag ist übrigens dämlich und unpassend.

Philippe Ségur: Yagudins Rückkehr / Aus dem Französischen von Natalie Freund-Giesbert. – Wien : Picus Verlag, 2005.
ISBN 3-85452-488-9

Originaltitel: Philippe Ségur: La poétique de l’égorgeur. – Paris : Éditiones Buchet Chastel, 2004

Buch bestellen bei:
» amazon.de » libri.de » buch24.de