Kein kriminalistisches Kabinettstückchen oder ein Brief an Mr. Sherlock Holmes

vom Krimiblogger

The Italian Secretary
Caleb Carr: The Italian Secretary – A Further Adventure of Sherlock Holmes

Werter Sherlock Holmes,

darf ich offen sprechen? Sie sind – mit Verlaub – ein echter Plagegeist. Nicht nur, dass Ihr Schöpfer, Sir Arthur Conan Doyle, Sie gerne ins Jenseits befördert hätte, wären da nicht die lautstarken Proteste der damaligen Leserschaft gewesen, nein, auch nach dem Tod Ihres geistigen Vaters kommen Sie nicht zur Ruhe. Zahlreiche Epigonen fühlten sich berufen, in die Fußstapfen Ihres Schöpfers zu treten und Ihnen weitere Geschichten anzudichten. Die Liste ist lang. Es widerfahren Ihnen zahlreiche Ereignisse, über die sich Sir Conan Doyle vermutlich verwundert gezeigt hätte. Eine Liebschaft wird Ihnen angedichtet, Ihre Tage als alter Mann und Bienenzüchter werden in epischer Breite ausgeschlachtet. Auch Kurioses gibt es aus Ihrem Leben zu berichten: Ihre Kokainsucht, über deren Folgen Sie als Kenner der Chemie vermutlich genau Bescheid wissen, Ihre Vorliebe zur Violine und natürlich ein angebliches Verhältnis mit Ihrem treuen Begleiter und Freund Dr. Watson. Vermutlich mehr, als eine literarische Figur – selbst wenn sie Verdienste um die Logik und die Kunst der Deduktion im Kriminalroman errungen hat – tragen kann.

Ach, lieber Mr.Holmes, nun also eine weitere, traurige Episode aus dem nicht enden wollenden Buch Ihres ruhmreichen und heldenhaften Lebens. Verfasst hat sie der amerikanische Schriftsteller Caleb Carr, seines Zeichens ausgewiesener Historiker und Autor einiger historischer Kriminalromane. Mr. Carr schickt Sie und Ihren Gehilfen Dr. Watson ins schaurige Schottland. Ihr älterer Bruder Mycroft, im Dienste ihrer Majestät, hatte Ihnen einen verschlüsselten Hilferuf in die Baker Street geschickt. Das Leben von Königin Viktoria ist in Gefahr – also braucht man im königlichen Palast von Hollyrood einen so klugen Kopf wie den Ihren, lieber Mr. Holmes. Wir wissen ja, was sich in den Mauern des Palastes einst zugetragen hat: Königin Maria Stuart musste in Hollyrood mit ansehen, wie ihr heimlicher Geliebter, der italienische Sekretär David Rizzio, hinterrücks gemeuchelt wurde. Man schrieb den 19. Juni 1566 als sich die abscheuliche Bluttat ereignete. Just in diesem Palast und seiner Umgebung, in dem sich das Verbrechen an dem Katholiken zutrug, sterben nun über dreihundert Jahre später. werter Mr. Holmes, zwei weitere Männer auf mysteriöse Weise. Sir Alistair Sinclair, Architekt und beauftragt, die Gemäuer von Hollyrood zu renovieren, findet durch eine neuartige Mähmaschine den Tod. Nur kurze Zeit später entdeckt man die Leiche von Dennis McKay, Bauführer von Sir Sinclair, zwischen den Ruinen der alten Abteil von Hollyrood.

Seliger Schlaf

Ganz klar: Dort werden Sie benötigt, Mr. Holmes. Also reisen Sie zusammen mit Dr. Watson in einem Sonderzug nach Schottland. Noch bevor Sie in Hollyrood eintreffen, entgehen Sie nur knapp einem Attentat. Ein junger und angeblicher schottischer Nationalist hat es auf Ihr Leben abgesehen. Nicht der einzige, merkwürdige Vorfall bei Ihrer Reise nach Schottland. Grauenvolle Dinge werden Sie in Hollyrood entdecken und sich seitenlang mit Dr. Holmes darüber unterhalten, ob es in dem alten Gemäuer spukt? Ist es der rachsüchtige Geist von David Rizzio, der dort sein Unwesen treibt? Oder sind es doch viel menschlichere Wesen, die nicht nur den Architekt und seinen Bauführer auf den Gewissen haben, sondern vielleicht bald auch die alternde Königin Viktoria? Steckt gar der deutsche Kaiser hinter diesen Taten? Wie schrieb Ihr Bruder Mycroft so schön in seiner verschlüsselten Botschaft: „Die Sonne brennt zu heiß, der Himmel ist gefüllt mit vertrauten Adlern…“

Nun, geschätzter Mr. Holmes, dies alles hätte ja ein schönes, kriminalistisches Kabinettstückchen werden können, eine unterhaltende Mischung aus Grusel,- Spionage- und Kriminalgeschichte. Doch leider, leider, leider – Mr. Carr scheint mir zu sehr damit beschäftigt gewesen zu sein, den Stil vom seligen Sir Arthur Conan Doyle zu erhaschen, und darüber hat er ganz und gar vergessen, dass er nur eine Kurzgeschichte schreiben wollte. So breitet er ein langweiliges Stückchen Literatur auch noch unverhältnismäßig aus. Die drögen Wortgefechte zwischen Ihnen, Dr. Watson und Ihrem Bruder Mycroft kennt man schon aus den Originalen zur Genüge – Mr. Carr schaffte es nicht, sich davon zu lösen und etwas Eigenes zu entwickeln. Nein, werter Mr. Holmes, ich würde Ihrem kühlen und scharfen Geiste nichts anderes wünschen, als die friedliche Ruhe der Bibliotheken und einen seligen Schlaf zwischen den Buchdeckeln der Conan-Doyle-Gesamtausgabe, gerne auch in Leder. Als alter Plagegeist, entsprungen einer imperialistischen Zeit, hätten Sie es sich verdient. Take a bow!

Mit hochachtungsvollen Grüßen

ein Leser

Caleb Carr: The Italian Secretary : A Further Adventure of Sherlock Holmes. – New York : Carroll & Graf Publishers, 2005.
ISBN 0-7867-1548-0

Eine deutsche Übersetzung ist mir zur Zeit nicht bekannt.

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