Ein komischer Vogel

vom Krimiblogger

das_letzte_raetsel_kriminalroman.jpg Michael Chabon: Das letzte Rätsel

Der Held ist müde. Seit dreißig Jahren befindet sich der alte Detektiv im Ruhestand. Mörderjagd passé – seinen Lebensabend verbringt er mit der Aufzucht von Bienen. Gebrechlich ist er geworden, aus seinem Sessel quält er sich nur noch für ausgewählte Besucher. Zu groß ist die Stolpergefahr und die Möglichkeit, sich die Knochen zu brechen. Als der alte Mann jedoch an einem Sommernachmittag im Jahre 1944 einen Jungen beobachtet, der den in der Nähe gelegenen Stromschienen bedenklich nahe kommt, springt er fast aus seinem Sessel. Das Interesse an dem Jungen aus Deutschland ist geweckt, als der alte Detektiv den Begleiter des Jungen entdeckt: einen sprechenden Papagei.

Mit dem alten Detektiv, dessen Schnüffelinstinkte hier noch einmal geweckt werden, ist der berühmte Sherlock Holmes gemeint, auch wenn der Name nicht einmal im Buch fällt. Bei dem Jungen aus Deutschland handelt es sich um Linus Steinman, ein jüdisches und stummes Flüchtlingskind. Er lebt in der Nachbarschaft beim Dorfpfarrer und besitzt eben jenen komischen Vogel, der Zahlen aufsagt. Bruno heißt der Graupapagei und eigentlich ist eine schäbige Hütte in Sussex kein Ort für einen Papagei und vielleicht auch nicht für den Jungen aus Deutschland. Doch Linus, Sohn eines berühmten Psychiaters, ist mit knapper Not den Nazi-Schergen entkommen. Als jüdischer Flüchtling im Jahre 1944 hat er keine Wahl.

Der sprechende Papagei weckt nicht nur das Interesse der anderen Mitbewohner in der kleinen Pfarrei, auch das englische Militär glaubt – wie kann es anders sein – dass Bruno einen Geheimcode der feindlichen Krauts vor plappert. Als der Papagei plötzlich verschwindet und einer der Untermieter der kleinen Pfarrei erschlagen aufgefunden wird, ist die Aufregung bei der örtlichen Polizei groß. Ein Rätsel, das noch einmal die Spürnase des gealterten Detektivs reizt.

Zwischen Mythos und Melancholie

Obwohl Arthur Conan Doyle seinem Sherlock Holmes schon 1917 eine „Abschiedsvorstellung“ bereitet hat, schreibt der US-amerikanische Autor Michael Chabon dem berühmten Detektiv einen weiteren Abgang. Der ist jedoch ganz anders, als wir es von Conan Doyle gewöhnt sind: Alter und Verschleiß haben bei dem Mann mit dem Cape ihre Spuren hinterlassen. Selbst seine berühmte Kombinationsgabe scheint eingerostet zu sein. Den Mörder des Untermieters wird er finden, doch das Zahlenrätsel bleibt am Ende offen. Oder doch nicht? Vielleicht reicht es auch aus, einen kleinen Jungen glücklich gemacht zu haben, weil er seinen Papagei wieder auf der Schulter tragen kann.

Ein melancholischer Ton durchzieht Chabons Erzählung, die übrigens sehr treffend von Andrea Fischer übersetzt wurde und mit liebevollen Illustrationen geschmückt ist. Der Pulitzer-Preisträger Chabon entwirft ein anderes, menschlicheres Bild des Superdetektivs. Kritiker bemängelten immer wieder die kalte und nüchterne Art, mit der Conan Doyle seinen Sherlock Holmes gezeichnet hat. Im Dualismus der beiden großen Detektive seiner Zeit galt Holmes als der gefühllose Analytiker, während sein literarischer Gegenentwurf, Father Brown, erfunden von G. K. Chesterton, der mitfühlende Pfarrer von nebenan ist.

Bei Chabon darf auch ein alter Holmes vor allem eines sein: Mensch. In einer knappen und dichten Prosa erzählt Michael Chabon die Ereignisse jenen Sommertagen 1944, die so sehr vom Krieg und seinen Folgen überschattet sind. Als der alte Detektiv im Zuge seiner Nachforschungen nach London fährt, erkennt er die ausgebombte Stadt fast nicht mehr wieder. Für den alten Detektiv eine traurige Erfahrung auf seine alten Tage.

Chabons Erzählung hebt sich aus dem Wust von Holmes-Nachfolgern und Parodien deutlich hervor. Glücklicherweise unternimmt Chabon nicht den Versuch, Conan Doyle zu imitieren, wie es etwa Caleb Carr in seinem Roman →„The Italian Secretary – A Further Adventure of Sherlock Holmes“ versucht hat und dabei grandios gescheitert ist. Chabon entwickelt eine poetische Sprache, spielt liebevoll und behutsam mit dem Mythos des Detektivs und seinen schrulligen Klischees, gewinnt ihm aber dadurch eine neue, menschlichere und eindringlichere Facette ab. Diese Abschiedsvorstellung verdient Applaus und ein alter, müder Held seinen wohlverdienten Ruhestand.

Anmerkung: Eigenwillig bleibt bei der deutschen Ausgabe der Untertitel „Ein Kriminalroman“, obwohl es im amerikanischen Original „A Story of Detection“ heißt. In der Tat ist Chabons Buch mit seinen 126 Seiten und dem gradlinigen Erzählstrang eine Erzählung oder Novelle, sicher kein Roman.

Michael Chabon: Das letzte Rätsel : Ein Kriminalroman / Aus dem Englischen von Andrea Fischer. – Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2005
ISBN 3-462-03626-2

Originalausgabe: Michael Chabon: The Final Solution : A Story of Detection. – New York : Fourth Estate, 2004

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Links
→ Organ – Collecting the Uncollected – Blog von Michael Chabon