Krimiblog-Archiv

Die Wiederentdeckung des literarischen Lesezirkels

Lesen ist, ähnlich wie Schreiben, eine einsame und intime Beschäftigung. Eine Beschäftigung, über die ich als Leser selbstverständlich das Recht habe, zu schweigen. Dennoch haben viele Leser das Bedürfnis, sich über ihre Lektüreerlebnisse auszutauschen. Ob in Internetforen und Blogs, ob in Kundenrezensionen bei amazon.de oder in virtuellen Lesezirkeln – es wird viel und reichlich über Literatur geschrieben. Was früher in privaten Lesegruppen, im Freundeskreis oder beim Gespräch mit dem Buchhändler des Vertrauens statt fand, hat seinen Platz nun im Netz, weltweit.

Zwei relativ neue Leserunden sorgen derzeit für Gesprächsstoff im Netz. Da ist zum einen die Seite → www.unendlicherspass.de, auf der seit dem 24. August das neue Buch „Unendlicher Spaß“ (engl.: „Infinite Jest“) des US-amerikanischen Autors David Foster Wallace gemeinsam gelesen und diskutiert wird. Vorbild war hier die englischsprachige Seite → infinitesummer.org, auf der seit dem 21. Juni der 1000-Seiten-Roman in einer Internet-Leserunde entdeckt wird. Mit ihrer Leserunde, die in Form eines Blogs ins Netz gestellt wird, bekamen die Macher weltweit große Aufmerksamkeit. Nicht verwunderlich also, dass der deutsche Verlag von David Foster Wallace, Kiepenheuer & Witsch, ein ähnliches Blogprojekt eben unter www.unendlicherspass.de ins Netz gestellt hat. Dort schreiben und diskutieren Autoren und Kritiker wie Alban Nikolai Herbst oder Elmar Krekeler über den Roman.

Zum anderen ist seit einigen Tagen die Seite → zwei666.de von Marvin Kleinemeier am Start. Inspiriert vom englischsprachigen Projekt infinitesummer.org soll es bei zwei666.de ab dem 7. September, dem Erscheinungstag der deutschen Ausgabe, um den monumentalen Roman „2666“ des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño gehen. Auf dem ansprechend gestalteten Blog soll gemeinsam mit „Ausdauerbibliophilen aus ganz Deutschland“ der Roman in genau 2666 Stunden „bezwungen“ werden. An 111 Tage. Vom 7. September bis zum 27. Dezember. 70 Seiten pro Woche. „Mit lateinamerikanischer Gelassenheit“ – wie es auf dem Blog heißt. Im Gegensatz zu www.unendlicherspass.de ist zwei666.de jedoch ein rein privates Projekt. Ein gelungener Ansatz, der große Lust macht, sich als „Ausdauerbibliophiler“ an dem Lesezirkel zu beteiligen. Eigentlich kann einem Autor und seinem Verlag nichts Besseres passieren.

Nun sind Leserunden nicht wirklich eine Neuerung im Netz. In Foren und Blogs wurden und werden schon seit Jahren gemeinsam Bücher gelesen und Lektüreeindrücke ausgetauscht. Was – gerade bei zwei666.de – auffällt, ist die Liebe, Sorgfalt und Eleganz, mit der ein solches Projekt angegangen wird. Da wird ein „Fahrplan durch die Nacht“ entworfen, wohinter sich der Leseplan verbirgt, oder erklärt, warum man sich „dort Gesellschaft“ wünscht. Das ist – zumindest für den deutschsprachigen Literaturbetrieb – noch Neuland. Hinzu kommt, dass Kleinemeier bei seinem Blog vor allem auch die ganz „normalen“ Leser einbezieht. Er schreibt:

„Gerade deswegen sollen sich auf zwei666.de Ausdauerbibliophile aus ganz Deutschland zusammentun und gemeinsam diesen “Berg von einem Werk” bezwingen, über ihre Leseeindrücke berichten, triviale und akademische Literaturkritik betreiben, Verzweiflungen und Euphorie schildern, verreißen und lobpreisen – sich also in jeglicher nur erdenkbaren Form an 2666 auslassen.“
Quelle: zwei666.de

Ein sympathischer Ansatz, gerade mit Blick auf ein literarisches Großwerk, wie es „2666“ darstellt. Ein Projekt, von dem andere Verlage und Autoren gerne lernen dürfen. Ich wünsche jedenfalls Marvin Kleinmeier und seinem Blog zwei666.de viele Leser. Und wer nicht möchte, der darf natürlich über seine Lektüre weiterhin schweigen.

Links:
→ Infinite Summer – das Leseblog zu „Infinite Jest“ von David Foster Wallace
→ 100 Tage Unendlicher Spaß – das Leseblog zur deutschsprachgigen Ausgabe „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace
→ zwei666.de – Lektüreblog zum Roman „2666“ von Roberto Bolaño
→ zwei666.de bei Twitter
→ zwei666.de bei StudiVZ