Verbrochene Welt

vom Krimiblogger

„Die ernsthafte, literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Kriminalliteratur ist nicht unbedingt fördernd für die Karriere“.

Auch wenn diese Aussage von Prof. Dr. Jochen Vogt Heiterkeit auslöste, steckt darin doch sehr viel Wahres: Die Literaturwissenschaften meiden den Kriminalroman, sehen in ihm vielleicht noch ein Genre, dass sie in der Literaturdidaktik bearbeiten können, doch die ernsthafte Auseinandersetzung, zum Beispiel in der Gattungstheorie oder unter historischen Aspekten, findet kaum statt. Deshalb ist es erfreulich, dass sich am vergangen Wochenende Literaturwissenschaftler der verschiedensten Richtungen, Literaturkritiker, Journalisten, Verleger, Studenten und interessierte Leser zur Tagung „Verbrochene Welt“ in der Evangelischen Akademie in Iserlohn trafen, um die „internationale Aktualität des Kriminalromans“ auszuloten.

Selbstverständlich können innerhalb von insgesamt acht Vorträgen in zwei Tagen nur erste Ansätze gefunden werden und Umrisse skizziert werden. Die waren aber durchweg spannend, informativ und lehrreich. So lieferte Dr. Thomas Wörtche mit seinem Einstiegsvortrag „Global Crime – Krimi global“ ein ersten Überblick. Am Beispiel der Autoren Yasmina Khadra (Algerien), Pepetela (Angola) und Leonardo Padura (Kuba) zeigte er auf, wie der Kriminalroman, der seine Wurzeln in der abendländischen Welt hat, in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten adaptiert und verändert wurde und wie er seine subversive Kraft entwickeln konnte.

Ein interessantes Beispiel ist der Kubaner Leonardo Padura, dessen Kriminalromane – aktuell das „Havanna-Quartett“ – auch bei uns veröffentlicht, gelesen und vielfach gelobt wurden. Padura, dessen kriminalistische Wurzeln und Vorbilder bei der US-amerikanischen Hardboiled-School zu finden sind, wendet die Formsprache des Kriminalromans an, um einerseits der heimischen Zensur zu entgehen. Kriminalliteratur wird – ähnlich wie bei uns – auch in Kuba nicht als ernste Literatur wahrgenommen. Das allerdings ermöglichte Padura, in seinen Romanen Kritik am Regime seines Landes zu üben. Paduras Seitenhiebe, zum Beispiel am Zustand des kubanischen Bildungswesen, gepaart mit einer realistischen Darstellung des Lebens auf Kuba und vermischt mit einer von den Herrschenden goutierten antiamerikanischen Haltung, wurden von der kubanischen Zensur überlesen oder nicht wahrgenommen – es ist ja Kriminalliteratur. Andererseits hat es Padura durch die Form des Kriminalromans geschafft, auch im Ausland wahrgenommen zu werden. Die kubanische Literaturzensur muss nun fortan zähneknirschend damit leben, einen international anerkannten Autor im Lande zu haben und ihn ungewollt gefördert zu haben, der mit Hilfe des Kriminalromans eindeutig Stellung zu den Misständen auf Kuba bezogen hat und diese Kritik über die Landesgrenzen hinaus trägt. Die immer noch mögliche subversive Kraft des Kriminalromans wird am Beispiel Paduras, der zudem ein „verdammt guter Schreiber“ ist, wie der Kritiker Jochen Vogt immer wieder betonte, sehr deutlich.

Täter und Tendenzen

Ganz anders die Situation in der aktuellen US-amerikanischen und britischen Krimiproduktion. Dr. Hans-Richard Brittnacher von der FU Berlin zeigte in seinem Vortrag verschiedene, mit einander verflochtene Tendenzen auf: In der US-amerikanischen Spannungsliteratur wird ein neuer moralischer Fundamentalismus deutlich, der seine Ausprägung vor allem im Courtroom Drama, den Gerichts- oder Justizthrillern (John Grisham ist nur einer von vielen) und entsprechenden TV- und Filmproduktionen, findet. Einher geht damit die Rehabilitierung des Schuldbegriffs, die Absage an den modernen Subjektivismus und vor allem ein Lobgesang auf das US-amerikanische Justizsystem, das in vielen dieser Romane und Filmen als „unfehlbar“ dargestellt wird.

Eine weitere Tendenz ist der Verzicht auf die spielerischen Aspekte: Die Naturwissenschaften haben durch die Betonung der Forensik (etwa bei Patricia D. Cornwell oder Kathy Reichs) Einzug in den Kriminalroman gehalten. Auch der Boom der sogenannten „True Crime“ Geschichten hat hier einen entscheidenden Anteil. Waren es vor einigen Jahren noch die Profiler, die anhand von psychologischen Gutachten die beliebten Serienkiller zur Strecke brachten, sind es jetzt die Gerichtsmediziner, die mit handfesten, naturwissenschaftlich untermauerten Fakten den Tätern das Handwerk legen. Eine dritte Tendenz ist die Hybridisierung des Genres, etwa durch die Vermischung von Kriminalfällen mit Okkultismus oder phantastischen Elementen, wie etwa bei dem Autor John Connolly.

Gute Aussichten

Ebenso aufschlussreich war die Geschichte des französischen Polar und Neo-Polar, die der Kritiker Tobias Gohlis in seinem Vortrag vorstellte. Von Jean-Patrick Manchette über Alain Fournier alias A.D.G., Dominique Manotti, Jean-Bernard Pouy, Didier Daeninckx bis hin zu Fred Vargas, die mit ihren „rompols“, wie die Autorin ihre Romane nennt (eine Abkürzung für „Roman Policier“), auch bei uns ein großes Lesepublikum fand, zeigte Gohlis die Entstehung, Weiterentwicklung und den Abgesang auf den Neo-Polar eindrucksvoll auf. Es folgten Einblicke in den österreichischen Krimi durch die Journalistin Kathrin Fischer, den russischen Kriminalroman durch Prof. Dr. Norbert Franz, den italienischen Krimi durch Dr. Steffen Richter und schließlich den türkischen Krimi durch Dr. Börte Sagaster. Abschluss der Veranstaltung bildete eine sehr lebhafte Diskussion, in der unter anderem eine stärkere Hinwendung der Literaturwissenschaft zur Untersuchung von literarischer Qualität in Krimis gefordert wurde.

Die Tagung belegte nicht nur die Vielfalt und Lebendigkeit des Genres Kriminalromans, sie zeigte auch, dass es in Deutschland ein Handvoll Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker gibt, die sich sehr fundiert und ernsthaft mit Kriminalliteratur auseinandersetzen – unabhängig davon, ob dies nun für ihre Karriere förderlich ist oder nicht. Für mich bleiben aber auch persönliche Begegnungen, zum Beispiel mit dem renomierten Kritiker Jochen Schmidt, dessen Buch „Gangster, Opfer, Detektive“ (1989) zu den besten Sachbüchern zählt, die in Deutschland zum Thema Kriminalroman geschrieben wurden. Erfreulich: Jochen Schmidt arbeitet derzeit an einer grundlegenden Überarbeitung und Aktualisierung seines Werkes und hofft, dies in eineinhalb Jahren fertig gestellt zu haben. Das sind sehr gute Aussichten.