Schickes Füllmaterial

vom Krimiblogger

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Ulrich Ritzel: Uferwald

Verbrechen bedingen Verbrechen, ein bekanntes Muster im Kriminalroman. In Ulrich Ritzels aktuellem Buch „Uferwald“ liegt das ursprüngliche und auslösende Verbrechen Jahre zurück. Es ist nicht, wie der Klappentext suggeriert, der vermeintliche Unfalltod eines jungen Mannes, es ist ein anderer Unfall, der sich schon 1996 ereignete. Ein Obdachloser wurde von einem Bauer angefahren und sitzt seitdem im Rollstuhl. „Rolli-Rolf“ fristet sein Dasein im Ulmer Obdachlosenheim „Zuflucht“, wo er den Jurastudenten Tilman Gossler kennenlernt. Rolf schöpft Hoffnung: Vielleicht kann Tilman ihm bei seiner Forderung nach Schadensersatz helfen. Nur kurze Zeit später stirbt Tilman in der Neujahrsnacht 1999 bei einem Verkehrsunfall. Doch so erzählt man keinen Kriminalroman. Ulrich Ritzel schreibt ihn gegen die Zeit und beginnt – ganz klassisch – mit dem Fund einer Frauenleiche.

Zeitsprung: Im Oktober 2005 wird die verweste Leiche von Charlotte Gossler, einer älteren Frau, in ihrer Wohnung entdeckt. Nachbarn hatten sich schon vor einiger Zeit bei der städtischen Wohnungsverwaltung gemeldet, doch die Meldung ist in den Mühlen der Bürokratie untergegangen. Erst ein entfernter Bekannter der Toten alarmiert telefonisch die Verwaltung. Vermutlich hat die Frau mehrere Monate tot in ihrer Wohnung gelegen. Kommissar Markus Kuttler soll den Fall bearbeiten, der zunächst wie ein trauriges Stück deutscher Alltagsgeschichte aussieht. Dann entdeckt Kuttler in der Wohnung das Tagebuch von Tilman Gossler, Sohn der Toten. Der Kommissar, gerade von privaten Trennungsproblemen geplagt, liest das Tagebuch und damit nehmen die Ermittlungen ihren Lauf.

Tilman war Mitglied einer Clique zu der ein angehender Politiker, ein snobistischer Banker, ein politisch korrekter Gutmensch, eine angehende Lehrerin und noch zwei weitere Frauen gehörten. In seinem Tagebuch hat er all die kleinen und großen Geheimnisse seiner Freunde festgehalten: So hat er den snobistischen Banker bei einer versuchten Vergewaltigung beobachtet und der angehende Politiker ist schwul. Tilman selbst scheint ein junger, orientierungsloser Mann gewesen zu sein, einer, der nie so richtig dazu gehörte. Dann lernt er den Obdachlosen „Rolli-Rolf“ kennen und erfährt, dass ihm das Schmerzensgeld für seinen Unfall nie ausgezahlt wurde. Tilman forscht nach und die junge Solveig, die nicht zur Clique gehört und die wie aus dem Nichts auftaucht, führt ihn auf eine Spur, die ihn zum dubiosen Anwalt von „Rolli-Rolf“ bringt. Der, so scheint es, hat das Schmerzensgeld unterschlagen. Noch bevor Tilman mit der Polizei sprechen kann, stirbt er bei einem Verkehrsunfall, der vermutlich keiner war.

Verdächtigungen statt Fakten

Gut sechs Jahre später kommen Kuttler und seine Kollegin Tamar Wegenast dem Geheimnis nach und nach auf die Spur, der Kreis von Verbrechen und Verbrechern weitet sich. Sind es zunächst die ehemaligen Cliquenmitglieder, auf die sich die Nachforschungen konzentrieren, wächst die Zahl der Tatverdächtigen an. Ein Künstler und der dubiose Anwalt geraten ebenfalls ins Visier. Auch die Zahl der Toten steigt: „Rolli-Rolf“ hat eine Lungenentzündung dahingerafft, ehemalige Vermieter, die als Zeugen hilfreich wären, liegen auf dem Friedhof und die geheimnisvolle Solveig, zu der Tilman ein besonders Verhältnis hatte, ist verschwunden. Auffällig jedoch, dass kein wirklicher Mord im juristischen Sinne geschieht, dem Tod wurde höchstens ein wenig nachgeholfen oder es waren Unfälle. Inszenierte und versteckte Morde. Die Beweislage ist für Kuttler und Wegenast schwierig, ihre Ermittlungen bringen mehr Verdächtigungen als Fakten an den Tag. Der Schlüssel, so scheint es, liegt bei den Mitgliedern der Clique, die schweigen aber lieber.

In ruhigem Stil erzählt Ulrich Ritzel seine Geschichte von getarnten Verbrechen, die Verbrechen bedingen. Jedoch nicht wie eine Kettenreaktion oder wie die gleichmäßigen Wellen, die bei einem Steinwurf ins Wasser entstehen. Ritzels Handlungsstränge sind asynchron, zu jedem Verbrechen bedarf es auch eines Verbrechers, der sich auf eine Tat einlässt oder eben nicht. Im Mittelpunkt stehen dabei die vielen kleinen Schweinereien, die miesen Machenschaften, die sich bedingen, miteinander verbunden sind und die ein sehr komplexes Bild entstehen lassen. Leider entgleitet Ritzel dabei allerdings manchmal der Faden. Eingeschobene Wiederholungen, wie zum Beispiel die traurige Geschichte von „Rolli-Rolf“, hemmen deutlich den Lesefluss und nehmen die Spannung. Auch sein Versuch, alle und alles direkt oder indirekt miteinander zu verbinden, wirkt an manchen Stellen des Romans überzogen und arg konstruiert.

Hassliebe eines Autors

Hauptproblem bei Ritzel ist jedoch die kriminalistische Grundlage, die auf ziemlich wackeligen Füßen steht: Ein zufällig gefundenes Tagebuch, entdeckt in der Wohung einer toten, vereinsamten Frau, die durch das soziale Raster gefallen ist, gibt den Anstoß zur Ermittlung. Würde es einem solchen Tagebuch, zudem von ihrem Sohn, nicht ebenso ergehen? Die Geschichte hängt an einem dünnen Faden, der im Laufe der Erzählung eher ausfranst, als dass er dicker würde. Bleibt Ritzels Sprache, die sich durch einen ironischen Ton, durch exakte Beobachtungen und durch ein ruhiges Tempo auszeichnet. Wie schon in seinen Vorgängerromanen findet Ritzel für sein Drama eine passende Stimme. Ja, der Autor kann gut und abwechslungsreich erzählen, wie etwa ein grotesk beschriebener Bankraub zeigt. Doch auch hier wieder das Problem: Der Überfall hat nur wenig mit der eigentlichen Handlung zu tun, ist wunderbar humorvoll erzählt, aber mehr verwirrend und hemmend als antreibend und spannend. Schickes Füllmaterial eben.

Weniger wäre hier mehr gewesen. Eine strafferer Plot hätte nicht nur der Geschichte gut getan, sondern auch der versteckten Kritik, die Ritzel seinen bislang fünf Romanen untermischt. Soziale Vereinsamung, der Umgang mit Außenseitern oder die Bausünden der Stadt Ulm tauchen auch in „Uferwald“ wieder auf. Überhaupt pflegt Ritzel eine Hassliebe zu seiner Heimatstadt Ulm und arbeitet sich an ihr ab. Für ein oder zwei Romane mag das tragen, auf die Dauer wird’s langweilig. Da hilft auch der Personalwechsel nicht, denn sein Kommissar Berndorf ist nicht mehr dabei. Der ist im Ruhestand und hat sich nach Berlin abgesetzt. Markus Kuttler und Tamar Wegenast ermitteln an seiner Stelle, in einem sprachlich gut erzählten, mit interessanten Figuren besetzten, letztlich aber konstruierten Fall. Schade.

Ritzel, Ulrich: Uferwald. – München : btb, 2006
ISBN-10: 3-442-75144-6
ISBN-13: 978-3-442-75144-0

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