Psychokiller Remixed
vom Krimiblogger
Michael Marshall: Der zweite Schöpfer
Sie verfolgen Dich. Überall lauern sie. Du kommst nicht an ihnen vorbei. Wenn Du glaubst, gerade einem entwischt zu sein, steht schon der nächste an der Ecke und schreit mit bluttriefender Schrift „Kauf mich! Ich bin der Perverseste, der Schrecklichste, der Ausgebuffteste. Die schönsten Alpträume kriegst Du nur von mir!“ Sie buhlen um Deine Gunst und doch weißt Du, dass die meisten nichts als unnütze Papierverschwendung sind. Serienkillerromane sind eine Plage. Stapelweise breiten sie sich auf den Tischen mit Krimineuerscheinungen aus und Du hast Dir geschworen „nevermore!“ Trotzdem kriegen sie Dich – vielleicht, weil Du glaubst, dieser hier könne mal etwas besser, neuer, trickreicher sein, vielleicht, weil der Klappentext Tiefgang verspricht, vielleicht, weil Du einen schwachen Moment hast und dem Charme der Angst und des Schauers erliegst. Dieser hier zum Beispiel, „Der zweite Schöpfer“ heißt er, der lockt mit „nervenzerreißender Spannung“, einer umgreifenden Verschwörung, ist ein „Millionenseller“ und laut Stephen King ein „Meisterwerk“.
Immerhin: Der Autor Michael Marshall hat früher mal „experimentelle Romane“ verfasst. Bedeutet soviel: Er hat mal Science-Fiction-Romane geschrieben und da hieß er noch Michael Marshall-Smith. Jetzt also ein Serienkillerroman, Auftakt zu einer Serie um den ehemaligen CIA-Agenten Ward Hopkins. Gleich zu Anfang gibt’s ein hübsches Massaker in einem McDonald’s-Fresstempel. Zwei Männer knallen 68 Fastfood-Junkies ab und danach erschießt der eine seinen Mörderkumpan. Ein durchgedrehter Slowfood-Anhänger? Ein vergrätzer Kunde, dessen Hamburger nicht richtig durchgebraten war? Der Leser erfährt es erst am Ende des Buches. Bis dahin gibt es zwei Handlungsstränge, die erst relativ spät zusammengeführt werden.
Strang Eins wird von dem schon erwähnten Ward Hopkins erzählt. Seine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Als er nach der Beerdigung ihr Haus durchsucht, findet er einen versteckten Zettel „Ward, wir sind nicht tot.“ Nachrichten aus dem Reich der Untoten machen sich in einem Serienkillerroman gut, ungelöste Geheimnisse sorgen für Spannung. Leben seine Eltern noch? Also schnüffelt Ward Hopkins weiter und findet im Haus ein Videoband, auf dem unterschiedliche Szenen zusammengeschnitten wurden. Sie zeigen seine Eltern in jungen Jahren, in einem Skigebiet, bei einer Party und auch ihn selbst als kleinen, schlafenden Jungen. Hopkins wird klar, dass seine Eltern ein Geheimnis hatten und er dies lösen muss.
Ballern und bomben
Strang Zwei stammt schon eher aus dem „Handbuch für Serienkillerromane“. Der ehemalige Polizist John Zandt wird von seiner Kollegin Nina in seiner selbstgewählten Einsamkeit aufgesucht. „Es ist wieder passiert.“ wirft sie ihm an den Kopf und John weiß, was sie meint. Vor einigen Jahren wurde seine Tochter von einem Psychopathen entführt. Einige Zeit später erhielten Zandt und seine Frau einen Pullover, bestickt mit dem Namen der Tochter. Die Stickerei wurde mit den langen Haaren des Mädchens ausgeführt. Nicht der erste Fall, bei dem ein gutaussehendes Mädchen mit langen Haaren verschwunden ist. Die meisten wurden später ermordet aufgefunden. Jetzt also wieder: In Los Angeles ist ein Mädchen verschwunden und die Eltern haben einen Pullover bekommen.
In Zwischenblenden wird das Leiden des aktuellen Opfers, der kleinen Sarah, beschreiben. Sie ist in den Händen des „Upright Man“, einem Serienkiller, der eine ganze Gruppe von Helfern um sich gescharrt hat, die sich „Straw Men“ nennen. Sie entführen nicht nur die Opfer für seine Morde und bringen die Pullover zu den trauernden Eltern, sie sind auch für den Tod von Ward Hopkins Eltern verantwortlich. Hier also treffen sich die Handlungsstränge und laufen dann auf einen Show-down à la Hollywood zusammen, bei dem ordentlich geballert und gebombt wird.
Abgesang auf Profiler
So weit, so schlecht. Was den Roman heraushebt aus dem blutigen Haufen der Serienkillerschmonzetten, sind die eingeschobenen und kurzen Reflexionen über die Welt und ihren Zustand. Sowohl Ward Hopkins wie auch John Zandt grübeln während der immer rasanter werdenden Jagd auf den Killer über seine Motivation, über die Grundlagen und über das Muster nach. Eine Antwort bekommen sie übrigens nicht, zumindest keine befriedigende. Das Rätsel des Psychopathen und seiner Schergen bleibt weitgehenden ungelöst. Je mehr sie stochern, desto düsterer wird es. Michael Marshall hat hier eine gewagte Abweichung von der Psychokillernorm unternommen und die ist ihm geglückt. Wie sehr das verstören kann, zeigt eine Kundenrezension bei amazon.de. Da schreibt ein Rezensent: „Es gibt sogar böse handwerkliche Fehler. So wird z.B. lang und breit dem Leser am Anfang ein Massaker mit zig Toten an den Kopf geworden, später aber nie aufgelöst, was denn der Grund für das Gemetzel war.“
Das mag böse sein, ein Fehler ist es nicht. Die reinen Fakten des Gemetzels – wer war es? – und die Identität des Täters werden natürlich aufgelöst. Was bleibt, ist die Frage nach dem „Warum?“, die nicht wirklich beantwortet wird. Das verstört Leser, die selbst den abartigsten Gedankengängen eines Serienkillers eine gewisse Logik abgewinnen. Die gibt es aber nicht, weder in der Fiktion noch im wirklichen Leben. Dass Marshall keinen omnipotenten Seelenklempner sondern zwei Bullen mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung auf Mörderjagd schickt, ist bezeichnend und darf als ein Abgesang auf Profiler verstanden werden. Was bleibt ist kein „Meisterwerk“, aber ein Roman, der sehr eigene Wege geht und dem Serienkiller andere Facetten abgewinnt. Man darf gespannt sein, wie Marshall die beiden Nachfolgebände „The Upright Man“ und „Blood of Angels“ gelungen sind.
Michael Marshall: Der zweite Schöpfer : Thriller / Aus dem Englischen von Reinhard Tiffert. – München : Droemer, 2005
ISBN-10: 3-426-19636-0
ISBN-13: 978-3-426-19636-6Originalausgabe: Michael Marshall: The Straw Men. – London : HarperCollins, 2002
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Bisher sind in der Ward-Hopkins-Reihe erschienen:
- The Straw Men, 2002 (dt.: Der zweite Schöpfer)
- The Upright Man, 2004 (in Großbritannien unter dem Titel „The Lonely Dead“)
- Blood of Angels, 2005