Verfolger und Verfolgte
vom Krimiblogger
Axel Brauns: Tag der Jagd
Seine ersten beiden Büchern brachten dem Hamburger Autor Axel Brauns viel Lob von der Kritik ein. In seinem autobiografischen Werk „Buntschatten und Fledermäuse – Mein Leben in einer anderen Welt“ (2002) erinnert sich Brauns an seine autistische Kindheit. In seinem Roman „Kraniche und Klopfer“ (2004) erzählt er die Geschichte des Mädchens Adina, deren Mutter das gemeinsam bewohnte Haus zu einer Müllhalde verkommen lässt. Jetzt hat Axel Brauns sein drittes Buch, einen Thriller mit dem Titel „Tag der Jagd“, vorgelegt. Es ist die Geschichte eines einzigen Tages, der für die beiden Hauptfiguren zu einem Wendepunkt in ihrem Leben wird oder werden könnte.
Michaela Mahr, Ehefrau eines Anwalts, kehrt von ihrem morgendlichen Lauftraining in ihre Wohnung zurück und findet ein Blutbad vor. Ihr Mann und ihre beiden Töchter sind ermordet worden. Die Täter befinden sich noch in der Wohnung. Heimlich flüchtet Michaela auf die Straße und beginnt mit ihrer Jagd auf die Mörder und deren Hintermänner. Zur gleichen Zeit sorgt sich der Polizist Timo Hartwig: Das erste Mal nach vier Jahren darf er sich einen Tag lang um seinen Sohn Malte kümmern. Nach der Trennung von seiner Frau hat er den Jungen nicht mehr sehen dürfen. Läuft es gut an diesem Tag, dann kann er seinen Sohn wieder öfters sehen, hofft Timo. Doch dann wird er zu einem Einsatz beordert. In einer Luxuswohnung in einem umgebauten Bunker im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel liegen drei Leichen – es sind die ermordeten Kinder und der Mann von Michaela Mahr.
Da Timos Kollegen wissen, wie wichtig dieser Tag für ihn ist, wird er nur zum „Mitjäger“. Schnelle, kleine Aufgaben soll er erfüllen, Nachbarn befragen und als „Brötchenprinz“ seine Kollegen mit Essen versorgen. Dabei trifft er zufällig auf Michaela Mahr, die er zu diesem Zeitpunkt nicht als solche erkennt. Die schöne Unbekannte ist für ihn eine sympathische Frau, mit der er ein wenig flirtet. Im Laufe des Tages werden sie sich noch öfter über den Weg laufen, doch bis dahin ist Michaela Mahr zu einer brutalen Mörderin geworden, die Rache an den Mitgliedern einer Bande nimmt, die für die Ermordung ihrer Familie verantwortlich ist. Dabei schwebt sie selbst in höchster Lebensgefahr.
Gelungene Variation
In kurzen Kapiteln, immer die Perspektive zwischen Michaela und Timo wechselnd, erzählt Axel Brauns die Geschichte eines Sommertages in Hamburg, der für beide Figuren zum entscheidenden Tag in ihrem Leben wird. Verstörend und verwirrend wirkt dabei zunächst Brauns Sprache, die zwischen nüchterner Lakonie und kindlicher Ausdrucksweise changiert. So haben alle Figuren ihre eigenen Begriffe – die Polizei wird zur Büttlerei, Timo ist ein Büttler, die kriminellen Banden werden zu Bündner, Michaela ist eine Bündnerin. Man telefoniert mit Handhexen und wühlt im Weltnetz mit einen Faltrechner. Im scharfen Kontrast dazu erzählt Brauns in einer emotionslosen Sprache den Rachefeldzug von Michaela, bei dem sie Männer misshandelt und hinterrücks erschießt. Dass der Autor dabei nicht in Manierismus abgleitet, liegt an diesen spannenden Gegensätzen und den knappen Rhythmus, mit dem er seine Geschichte erzählt.
Beeindruckend ist Brauns Fähigkeit fremde Gedanken- und Gefühlswelten dicht und nah einzufangen und seine Figuren mit ihren Konflikten differenziert und lebensnah zu beschreiben. Für einen Mann, der unter dem Asperger-Syndrom leidet, einer leichten Form des Autismus, vermutlich eine Herausforderung. Doch das ist nicht das Entscheidende. Brauns hat einen außergewöhnlichen und mitreißenden Thriller geschrieben, der durch Dramaturgie, Figurenzeichnung und Sprache zu überzeugen weiß. Eine gelungene Variation über das Thema Verfolger und Verfolgte und ein spannender Einblick in nahe und doch fremde Welten.
Axel Brauns: Tag der Jagd. – Hamburg : Hoffmann und Campe, 2006
ISBN-10: 3-455-00586-1
ISBN-13: 978-3-455-00586-8Buch bestellen bei:
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→ Homepage von Axel Brauns
→ Informationen zu Autismus bei „Quarks & Co“ / WDR
Kommentare
Hallo Ludger,
ich lasse mich immer gerne von Deinen Rezis inspirieren, bin z.B. durch Dich zum Paprotta-Fan geworden und bin oft Deiner Meinung, wenn Du Krimi-Anfänger zerreißt.
Auch dieser Krimi-Empfehlung bin ich gefolgt und habe es nicht bereut! Ein toller, lesenswerter Krimi. Aber Thriller? Nee, ein Thriller ist das nicht. Und brillant? Nee, brillant finde ich ihn auch nicht. Es gibt doch eine ganze Reihe diskutabler Punkte und ich wundere mich im Nachhinein sehr, dass Du nicht – in altbewährter Art – diese Punkte in Deiner Rezi angeführt hast.
Was war denn los? Warum so zahm? Und gibt’s aus Deiner Sicht wirklich nichts diskutables anzumerken?
Salut
Burkhard
Hallo Burkhard,
Deine Kritik ist angekommen. Was mich natürlich interessiert, sind Deine Punkte, die Du für diskutabel hälst.
Ich hatte mit diesem Buch in der Tat meine Schwierigkeiten, die oben nicht deutlich werden. Als ich anfing, das Buch zu lesen, hatte ich nur kurz im Klappentext gelesen, dass Axel Brauns Autist ist. Dann wunderte ich mich beim Lesen, was diese merkwürdigen Begriffe wie Büttler oder Handhexen eigentlich sollten. Nachdem ich das Buch durchgelesen hatte, schaute ich ein wenig im Weltnetz. Über Brauns war da einiges zu finden, da er in zwei Fernsehreportagen vorgestellt wurde. Es wurde auch auf die Schwierigkeiten und Problem von Autisten hingewiesen. Warum er diese eigenwilligen Begriffe benutzt, wurde mir dann auf einmal klar. Ebenfalls, wie schwierig es für einen Autist ist, Gedanken und Gefühle von anderen Menschen wahrzunehmen und sich, ja, einzufühlen. Wie viel schwieriger muss es für ihn sein, dies in Worte zu fassen. Das hat mich beeindruckt und dieser Eindruck hat sich dann auch auf mein Urteil abgefärbt.
Wir könnten nun trefflich darüber streiten, wie wichtig der biografische Hintergrund eines Autors bei der Bewertung seiner literarischen Werke ist. Darf man das überhaupt einbringen oder soll man einen Roman eben isoliert davon betrachten, nur nach literarischen Kriterien bewerten? Ganz ehrlich – ich weiß keine Antwort und diesen Streit gibt es ja schon lange.
Ja, in der Tat hätte ich das Buch kritischer sehen und bewerten können, wenn ich den biografischen Hintergrund und die Bedeutung der Erkrankung Brauns ausgeblendet hätte. Hätte ich nach der Lektüre nicht geschaut, was Autismus bedeutet, wie die Krankheit verläuft, welche Schwierigkeiten es gibt und hätte ich die ganzen biografischen Informationen über Brauns nicht im Netz gefunden – meine Bewertung wäre sicher anders ausgefallen. So aber bleibt eine Besprechung, mit der ich selbst nicht glücklich bin und ein Buch, das für mich zwiespältig bleibt.
Liebe Grüße
Ludger
Hallo Ludger,
nun – ich denke, man muss bei diesem Autor überhaupt nicht darüber streiten, ob sein Hintergrund in die Diskussion um sein Buch hineingehört, oder nicht. Ich habe ihn mal getroffen und da hat er mir zwei Stunden lang das Ohr abgekaut. Für einen Autisten ist solch ein Redefluss doch ziemlich ungewöhnlich. Er hat halt auch nur eine leichte Variante davon! Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht als Autisten eingestuft, wenn er es nicht selbst erwähnt hätte. (Vielleicht ist das auch nur eine sehr gelungene Marketing-Aktion!*grins*)
Außerdem kann er doch sehr wohl Gefühle beschreiben. Ich finde, bei der Vater-Sohn-Beziehung kommt eine Menge Gefühl rüber. Aber warum beschreibt er die Michaela Mahr so herzlos? Das hat sich mir – trotz der Andeutungen zu ihrer Kindheit – nicht erschlossen.
Die ulkigen Begriffe – gut, dass fand ich eigentlich ganz witzig, ob man „kuhl“ so eindeutschen muss – ja gut, geht auch noch … Aber die Geschichte an sich ist mir ein bisschen zu abgehoben. Es ist eine „Kleine-Jungen-Western-Variante“, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Das finde ich schade, weil es ein durchaus guter Krimi ist, er aber die Chance verpasst, etwas „zu sagen“, oder etwas „zu bedeuten“.
Es gibt noch eine ganze Menge mehr, was mir nicht gefallen hat, aber wenn ich das hier beschreibe, verrate ich zu viel und – eine Leseempfehlung für diesen Krimi möchte ich – trotz aller Kritikpunkte – trotzdem aussprechen.
Im Vergleich zu dem, was der deutsche Krimi-Markt sonst zu bieten hat, ist dieser Krimi wirklich spitze.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen – weil es dem Autor gelungen ist, die Spannung, oder zumindest die Neugierde, Seite für Seite, von Anfang bis zum Ende zu halten. Das ist doch klasse!
Ich bin mal sehr gespannt, ob sich so eine Art Krimi auf dem deutschen Krimi-Markt durchsetzen kann (oder nicht!?)
Salut
Burkhard
P.S. Die HP von Axel B. finde ich allerdings ziemlich peinlich. (Da ist nämlich noch nix!) Die wird immerhin ziemlich prominent im Buchumschlag erwähnt. Das hat mit Marketing allerdings gar nichts zu tun!!!
Sorry: Eine Verständnisfrage zum PS: Was ist HP? Heilpraktiker? Halpkritik?
Ratlos in Karlsruhe:
Georg
Hallo,
zunächst: mit HP meintBurkhard sicher die Homepage von Axel Brauns (die ist oben verlinkt). Aber was ist Halpkritik?
Ja, die Gefühlsbeschreibungen sind bei der Vater-Sohn-Geschichte gelungen. Das Michaela Mahr so herzlos erscheint, hat mit nicht weiter gestört. Sie ist Mitglied des organisierten Verbrechens und zwar schon seit Jahren. Ob ihr Rachefeldzug allerdings realistisch dargestellt wird, stelle ich auch mal in Frage.
Was mir im nachhinein noch auffiel, ist diese penetrante Wiedergabe von Straßennamen, Plätzen und die arg akribische Beschreibung der Orte. Man könnte diese Orte hier in Hamburg alle ablaufen, selbst der Bio-Supermarkt an der Osterstraße ist real. Ich habe mich gefragt, was das soll. Als Hamburger kann ich das alles nachvollziehen, aber jemand, der Hamburg nicht kennt, wird damit nicht viel anfangen können. Heimatliteratur?
Spannend ist der Roman auf jeden Fall, gerade durch das Wechselspiel zwischen dem Polizisten und der Frau.
Schönen Pfingstmontag
Ludger
Ach. Danke. Abkü! Gr.
Halpkritik ist eine Kritik, die nur halp fertig ist. Daher der Name. Angerissene Kritik. Wie auf meinem Blog manchmal, dessen Link ich hier nicht reinsetze, weil mich dpr dann wieder wegen Eigenwerbung tadelt.
Und das will nicht:
Georg
Mich stören übrigens auch immer diese überdetaillierten Beschreibungen und Namens- und Datennennungen. Wenn man nicht sagt, Pistole, Handtasche, Schuhe, etc. sondern de Markennamen immer gleich dazusagen muss. Das ist ein unseliges Produkt der Creative Writing-Kurse. Und eine grobe Missachtung der Leserphantasie.
Aber lieber Georg,
lass Dich nicht von dpr verrückt machen. Schon gar nicht auf diesem Blog. Du darfst ruhig linken.
Was die Markennamen betrifft: Ist bestimmt Sponsoring, Werbung, ganz subtil. Dann doch lieber ein offener, direkter Link. Da weiß man, was man hat.
reklamegeschädigt
Ludger
Hallo Ludger,
ja, ich meinte das hier: http://www.axelbrauns.de/
Und – ja, die Gegend kenne ich auch ganz gut. Ich frage mich auch, wie die Leute die in dem ehemaligen Beiersdorf-Bunker wohnen das wohl finden, dass ihre Wohnung ein fiktiver Ort von so einem Massaker geworden ist!? Ob die sich da jetzt noch wohl fühlen? 🙂
Und darf ein Autor so etwas überhaupt?
Salut
Burkhard
Hallo,
„Mich stören übrigens auch immer diese überdetaillierten Beschreibungen und Namens- und Datennennungen. Wenn man nicht sagt, Pistole, Handtasche, Schuhe, etc. sondern de Markennamen immer gleich dazusagen muss. Das ist ein unseliges Produkt der Creative Writing-Kurse.“
Find ich nicht unbedingt. Tatsache ist doch, dass die Marken mit denen ein Mensch sich „behängt“, beim Gegenüber zu einer Einschätzung und Bewertung über diesen Menschen führen.
Beste Grüße
bernd
Man sollte da ein wenig differenzieren. Ich erinnere mich an Stieg Larssons „Verblendung“, wo z.B. der Apple-Computer des Protaganisten mehrfach mit genauer Typenbezeichnung etc. genannt wird. Da das Buch über weite Strecken gemächlich und präzise beschreibt, passt das auch. Meistens jedoch ist es tatsächlich nur name-dropping und der genannte Schreibschulen-Reflex.
Ähnlich problematisch sind detaillierte Personenbeschreibungen. Häufig nur phantasiestörend, da sich LeserInnen instinktiv ein eigenes Bild von den Personen machen. Manchmal aber ist es ein dramaturgisches oder Stilelement.
bye
dpr
“Die Welt ist krank, mein Herrâ€
(Malte, 8 Jahre)
Dicke Bretter: sprechen, denken, handeln, texten – in Stein gemeißelt – setzen Prozesse der Verinnerlichung voraus, so Jürgen Habermas in seiner “Theorie des kommunikativen Handelnsâ€. Und umgekehrt: denken, sprechen ist verinnerlichen. Zusammen genommen bedeutet das den komplementären Aufbau einer inneren wie äußeren Welt – nicht im Sinne bloßer Verdopplung, denn immer wieder ist etwas anders gemeint als gesagt, bzw. als von einem Hörer verstanden. Kopierfehler – Mutationen: Zäh und schwierig, mit zunehmendem Alter, gestalten sich Vorgänge der Übertragung: senden, aufnehmen und verarbeiten von Informationen, in Worte zwischenzuspeichern, immer wieder noch mal zeichnen, ab-bilden, bis Konturen sich endlich schärfer abzeichnen, einsamer und institutionalisierender Prozess: das alles immer wieder noch mal, bis “es†endlich sitzt (Innen), um “regelgeleitet†die Welt (Außen) zu beherrschen.
Die Zentralbank ist eine Institution, über Jahrhunderte gewachsen: Geldschöpfung durch die Zentralbank geschieht gemäß den Regeln der Kapitalverwertung: wer wächst, irgendwie, bekommt Geld, nicht um zu wachsen: weil es menschliche Bedürfnisse gibt. Sind Regeln unabänderlich?, weil sie sehr alt sind?, weil Menschen, senil verhaltensgestörte Zentralbanker, sich Tag für Tag an ihnen laben und natürlich wollen, dass das so bleibt? Oh Regellust. Wir kennen das vom Spiel. Die eigenen Regeln sind einem immer die vernünftigsten, weil man sie kennt, sich in und mit ihnen schlaftrunkend versteht – zu bewegen. Wenn Doppelkopfspieler sich kennen lernen, gibt’s immer erst mal Streit um Regeln. Um wie viel mehr muss das für Regeln gelten, mit denen Menschen sich ihren Lebensunterhalt sichern? Da kann ja jeder kommen.
Bohrkernanalyse: Institutionen spiegeln Verhalten, darüber Gefühle sich ergießen, sedimentierend, in soziale Realität. Institutionalisiertes Handeln ist regelgeleitetes Handeln: wenn grün, dann freie Fahrt; es wird nicht mehr unentwegt auf seine Legitimität hin befragt, wiewohl prinzipiell der Kritik zugänglich. Immer wieder bohren tut weh. Weil nichts ist wie es ist: soziale Strukturen sich ihre Entwicklungsfähigkeit bewahren müssen, andernfalls Gesellschaft zugrunde ginge. Wie der einzelne Mensch, wenn er von Geburt an sich nicht immer wieder neu (re)konstruierte: sich seiner Naturwüchsigkeit nicht entkleiden würde, um gesellschaftsfähig zu werden und zu bleiben. Kinder müssen es können. Erwachsene wollen immer weniger, je älter sie werden. Endlich fertig sein wollen, sein wie man ist, wiewohl selbst dies immerzu innerer Prozess, der unentwegt analysiert, um Äußeres selbstgesprächig zu begleiten, immerzu theoretisierend, dumm oder klug, ob der Sozius will oder nicht, in welchem Alter auch immer. Veränderung, auch wenn nicht gewollt, ist immer und überall virulent und sei es hinterrücks als traumatisierender Einbruch. Der Faschismus – “willst du nicht mein Freund sein, schlage ich dir den Schädel ein†– kommt auf leisen Sohlen als könne er kein Wässerchen trüben, bis er niemanden mehr verschont.
Wie passt das zusammen? Erstens: Innerliches. Zweitens: unter welchen äußeren Bedingungen? Drittens: wie gehen Innen und Außen zusammen? Die äußeren Bedingungen wollen sich nicht so ohne weiteres ändern lassen, weil das Innen glaubt, nicht mitspielen zu müssen, wiewohl das Außen sich unentwegt ändert. Fragt sich nur, wohin die Reise geht, wenn das Innen nicht mitspielt, weil alte Regeln immerzu weiter gelten müssen. Erstens: Lass uns ein Blutbad anrichten. Zweitens: Die Welt ist krank, mein Herr. Beide Sätze jagt Axel Brauns in seinem Roman “Tag der Jagd†immer wieder durch den Mund von Malte, eines achtjährigen Kindes. Und dann stehen sie da wie hingestellt und nicht abgeholt: Sätze und Menschen. Entsetzen bei Timo, dem leiblichen Vater. Bis dieser mitspielt, um Aufmerksamkeit beim Kleinen bettelnd. Der Arsch geht auf Grundeis. Konturen brechen ein. Plötzlich bedarf es gar keiner Regel mehr.
Die Rückkehr – Froschperspektive – der andere ist schuld: Cool. Erwachsene werden wie Kinder, wenn nicht weniger, denn sie lernen nicht mehr wie Kinder. Sie sind krank: ohne seelisches Wachstum, bzw. dieses entwickelt sich zurück: “infantil. Kinder können gemäß ihrer Natur nicht anders fragen als nach eigener und fremder Schuld†(“Gabrielleâ€, http://www.film-und-politik.de), aber sie lernen. Dafür brauchen sie Nähe und Aufmerksamkeit, die ihnen die Gesellschaft – Erwachsene – vorenthält. Unter der Hand wird der gesellschaftliche Körper von Regressionen zerfressen – rollstuhlbewaffnet, bis die Bundeswehr endlich einsetzbar im Inneren. Die Alten setzen sich und ihre äußere Umgebung immer primitiver zusammen. Am Ende geht nichts mehr.
Fossile Reflexe: selbst Jürgen Habermas hat Instinkte, wie ein Trüffelschwein auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Dafür er als Verhaltensregel die Nächstenliebe neu erfunden hat. Love makes the world go round. Endlich versteht ihn mal jemand, den Habermas. Er meint es ja gut: gesellschaftskritisch, so er verstanden werden will, kontradiktorisch zum Papst: the world do not go round without God. Cool. Der Papst ist schließlich nicht irgendwer. Mit dem zusammen geht noch jeder Dreck in Windeseile um die Welt. Es ist immer gut, wenn man weiß, wohin man gehört. Die Hofnarren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. In der Regel wussten sie früher bei Hofe, mit wem sie’s zu tun hatten.
Alter – Autismus – mildernde Umstände: Langsam nähern wir uns, regeltechnisch betrachtet, dem Roman “Tag der Jagdâ€. Mit dem Telegrammstil möchte Axel Brauns vielleicht Akzente setzen. Benennungen, hintereinander weggeschrieben, abzuschließen mit einem Doppelpunkt, ganze Straßenzüge: “Schulweg – Im Gehölz – Am Weiher:â€. Sind Straßen wichtig?, genauso wichtig wie Personen? Örtliche Akzentuierungen machen mich unruhig, selbst solche, die mir sehr vertraut sind, weil ich nah bei ihnen zu Hause bin. Vielleicht bringt der Autor Straßen mit Menschen in Verbindung, die er dort kennen gelernt hat, am Heußweg, im “Café Straussâ€, gegenüber dem Stellinger Weg, gleich neben der Grundschule, wo Malte, Timos kleiner Sohn, zur Schule geht. Dritte Klasse oder so. Ein bisschen Straßengestrüpp kann nicht schaden, um auf das Wesentliche vorzubereiten. Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen. Doch was ist wesentlich? Gerade eben ist irgendwo im Gestrüpp ein Blutbad angerichtet worden, in einer Wohnung, ein paar Häuser weiter im Heußweg, Malte weiß nichts davon. Timo, sein Vater, schon. Er ist Bulle.
Lass uns ein Blutbad anrichten – die Welt ist krank, mein Herr: Kurz nach dem Blutbad lernen sich die beiden Hauptfiguren im Café Strauss kennen: Timo und Michaela, eine Autistin, genannt Mia. Zufällig und unabhängig davon, dass sie durch das Blutbad miteinander verbunden sind. Noch schlägt das Schicksal nicht zu. Sie wissen nichts von dieser Verbindung. Können es nicht wissen, noch während sie es sich schön machen miteinander, erstmalig im Café Strauss und später, noch zufälliger, eine zeitlang ausgelassen an der Hamburger Alster, immer noch nichts ahnend. Soll das jetzt ewig so weiter gehen? Kein Vorsatz. Ein bisschen gewissenloses Glück kann nicht schaden. Ein mildernder Umstand? Wer will das wissen? Bestraft gemäß antiker Überlieferung das Schicksal nicht auch den, der von seinen Sünden – ganz gleichgültig: nichts weiß oder nichts wissen will? Das alles wird böse enden. Gott vergibt in Wirklichkeit nichts. “Ich werde den Tag wahrscheinlich nicht überleben,†sagt Mia zu sich selbst. Sie muss es wissen; sie ist Autistin. Der gesellschaftlich hervorgebrachte Autismus weiß nichts, zuweilen vorsätzlich: In “Lemming†ging’s, abgesehen von ein paar Kollateralschäden, gerade noch mal gut. (“Lemmingâ€, http://www.film-und-politik.de)
Gefühl – Pose – Autismus: Das Bewusstsein oder die Befürchtung im Sinne einer latenten Angst, nie genug voneinander zu wissen, ist Ausdruck einer Lebensform, die, so könnte man dem Roman entnehmen, im biologisch hervorgebrachten Autismus wurzelt, mit dem der Autor selbst, so steht es auf dem Klappentext, seit seiner Kindheit zu tun hat. Konträr dazu steht das “Kalkulierte im Unklaren lassenâ€, ein “Nicht wissen wollen†oder “sollenâ€, so wenn Bulle Timo sich von seinen Mitjägern mit zu wenig Informationen über das Blutbad versorgt fühlt, um als “Brötchenprinz†oder “Treppentiger†unter Wert eingesetzt zu werden. Von seinen Kollegen, die es feinfühligst gut meinen. Wie Timo: bevor die Kollegen ihn zum Brötchenprinz machen, meldet er sich vorsorglich freiwillig. Wenn Wissen doch nicht immerzu Kritik nach sich zöge, verbunden mit ätzenden Begehrlichkeiten, um Besitzstände – institutionell verseilt – zu gefährden, und wenn Kritik überdies nur nicht immer so furchtbar weh täte, im Alter immer mehr, durch Autismus dem Wissen zum Glück immer weniger schutzlos ausgeliefert, wiewohl andersherum, Kritik ohne Schmerz transportiert, zur bloßen Pose sedimentierte. Auch nicht schlecht.
Gefühl – Sedimentierung – Glaube: Wie viel Gefühl mag in einer Pose verborgen sein?, oder in einem Stein, auf dem ein 4000 Jahre alter Text gemeißelt steht?, in einer Pyramide? Die Menschen hingen an ihrem Pharao. Es war eine Ehre, für den Pharao zu arbeiten. Für die Unsterblichkeit eines Menschen, damit er später, den Göttern nah, ein gutes Wort für uns Lebende einlegt. Das hat was. Heute arbeitet man, um zu arbeiten. Für nichts. Wer für nichts nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Er gehört auch von seelischer Nahrung ausgeschlossen, exkommuniziert, natürlich immer mit ein paar fossilen Reflexen als Beilage, damit’s nicht so auffällt. So Ex-Familienministerin Renate Schmidt wohlgenährt in “Hart aber fairâ€. Ihr zufolge ist Hartz IV ein gutes Gesetz. Ja, und “Arbeitslosen geht’s gar nicht um noch mehr Geld. Sie brauchen Hilfe; sie wollen, dass man ihnen hilft.†Sicherlich hat sie sich vorher erkundigt. Ein Autismus der schlimmsten Sorte. Die fossilen Reflexe von Bisky sind nicht weniger ekelhaft, wenn er über Sozialismus spricht. Auch PDS-Leute westdeutscher Herkunft kommen von der ehemaligen DDR bis heute nicht los. Natürlich, immer sind die anderen schuld. Wir müssen Arbeitslose verhöhnen, mussten Menschen an der Mauer erschießen (lassen), einsperren und foltern, wenn sie ihre Meinung sagten. Denn unsere Arbeit für den Sozialismus ist einfach zu wertvoll. Und überhaupt, gab es nach dem Zweiten Weltkrieg etwa nicht haufenweise Nazis in den westdeutschen Parteien?, Hans Globke gar als Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Adenauer von 1953 bis 1963? Der hatte seinerzeit als Jurist unter den Nazis die Nürnberger Rassengesetze von 1935 mitformuliert. Also, was soll’s.
Gleich auf den ersten Seiten zeigt Mia, wenn auch durch einen biologisch hervorgebrachten Autismus gefärbt, ein unbefangenes Verhältnis zum Tod. Zuerst dachte ich, sie stehe unter Schock. Sie blieb ruhig und gefasst, nachdem sie in ihrer Wohnung ihre Familie ermordet vorfand: ihre beiden Mädchen und ihren Mann mit durchschnittener Kehle. Der Autist verliere keinen Menschen, wenn er stirbt, so der Autor in seiner Filmbesprechung “Snow Cake†(Die Welt vom 3.Nov.06): “Es gibt in Hamburg Menschen, die von Poppenbüttel nach Winterhude umziehen, und es gibt Menschen, die auf den Friedhof umziehen. Emotional habe ich zwischen diesen beiden Umzugsarten nie einen Unterschied gemacht. Meine Mutter hat mir zwar erklärt, worum es beim Kondolieren geht. Doch so richtig habe ich es nie verstanden. Am besten hat mir ihr Rat gefallen, dass ich einfach schweigen sollte.â€
Die wenigen Zeilen verraten mir: Axel Brauns, um Orientierung ringend, weiß, dass er zu wenig weiß. So muss er aus seinen Defiziten keinen Hehl machen. Er fragt. Er leistet sich Neugier. Dazu braucht es Nähe. Zur Nähe er vielleicht, anders als der sogenannte normal fühlende Mensch, ein unbefangeneres Verhältnis hat, weil er sich diese seit seiner Kindheit mit sehr viel Mühe erarbeiten musste. Kurzum, er weiß, was Nähe ist. Er weiß um ihre Bedeutung. Anders der gesellschaftlich hervorgebrachte Autismus, im Sinne von sedimentär gefesseltem Desinteresse, ohne Forschergeist, einem Interesse, das mit Neugier nicht angereichert ist. Neugier erfordert Nähe zum Objekt: zunächst (mit)fühlen wollen, um sich ein vorläufiges Bild zu machen vom Objekt der Begierde. Du sollst dir aber kein Bild machen von deinem Gott, wusste schon das Alte Testament zu sagen, ein Rachegott, der keine anderen Götter neben sich duldete. Es durfte nur noch den einen Gott geben, einen Un-Mensch, den es anzuerkennen galt, wohl wahr, als den Einen und ganz und gar Anderen, aber nicht zu erkennen galt, um schlimmen Begehrlichkeiten von vorn herein einen Riegel vorzuschieben, mit dem Makel von Sünde und Schuld zu versehen. Heute ist Gott als ein Außen, als eigenständige Entität, so tot, toter geht’s nicht, wiewohl lebendig in jedem einzelnen von uns, als Narziss, um in unseren sozialen Beziehungen große Verwüstungen anzurichten – bis in Zweierbeziehungen hinein. Ja, es herrscht die Wüste in und um uns herum: Desinteresse, bestenfalls geheucheltes Interesse, wohin man guckt. Auf den Punkt gebracht: Autismus.
Ein Begehren auszuleben bedeutet, sein Gegenüber erkennen, so die alten Hebräer, ihn durchsichtig und transparent machen. Wie in der antiken Götterwelt: die ganz und gar Anderen mit menschlichen Eigenschaften versehen, dem hybrid-menschlichen Zweifel aussetzend, den die Götter bei Odysseus zu strafen suchten. Vergeblich, wie wir wissen. Er wusste sich der Strafe zu entziehen, weil er wusste wie Götter ticken. Gar nicht anders als Menschen. Das durfte so nicht weitergehen. Ein anderer Gott musste her. Die Griechen dachten ihn schon vorweg. Dafür musste Sokrates den Giftbecher trinken, wegen Gotteslästerung, weil er den ganz und gar Anderen angedacht, oh Frevel: ohne menschliche Eigenschaften, für die Griechen eine Unmöglichkeit. Wie überhaupt etwas denken, ohne Menschliches ins Spiel zu bringen, ohne menschliches Maß? Wie zu einer solchen Quadratur des Kreises kommen? Dem Alten Testament zufolge ging es darum, den einen Gott von menschlichen Eigenschaften zu befreien, und dann wieder doch nicht, denn der Herr spricht: “Mein ist die Rache.†(5.Moses, 32,35) Hier wird der Mensch von einer Naturwüchsigkeit entkleidet, eine menschliche Eigenschaft, die man seinem Gott zuordnet. Eine wichtige Neuerung, denn vor allem Rache, damit einhergehende Nähe, würde das Zusammenleben größerer Menschenmassen gefährden: den Bund zwischen Gott und seinem auserwähltem Volk: Gott als Gesetz, als Institution, als personifizierte Regel: in Stein gemeißelte Worte, zehn Gebote. Und dann musste dieser Gott vor neugierigen Blicken geschützt werden. Mit dieser aporischen Notwendigkeit lebt das Christentum bis heute und ist daran zugrunde gegangen, nicht in der Lage, dem â€Wissen wollen†und der Instrumentalisierung einen Riegel vorzuschieben. Gott ist halt nicht einfach nur Gott. Gott lügt, wenn er spricht: “Ich bin der, der ich bin.†Der Riegel, er ist von allem Anfang an verlogene Konstruktion, heute nur noch schnöde – “komm mir bloß nicht zu nahe†– selbstverordneter Autismus. Er ist nicht vom Himmel gefallen, vielmehr über Jahrtausende aporisch – nicht-biologisch – gewachsen, künstlich, fragwürdig, und deshalb als sozialer Sachverhalt sachlich erklärbar. (“Wettlauf der Gefühleâ€, http://www.film-und-politik.de, Kommunikation)
Der gesellschaftlich hervorgebrachte Autismus wird von oben nach unten durchgereicht, signalgesteuert (“Zeichen, Sprache, Moralâ€, http://www.film-und-politik.de, Kommunikation), um weiter unten vorhersehbar durch den verpöbelten Intellektuellen exekutiert zu werden. Der Pöbel will Nähe. Wenn’s sein muss, mit Gewalt. Ohne Sinn und Verstand. Aus dem Instinkt heraus. Trüffelschweine überall. Auch Klinsi ist angekommen in unserer Gesellschaft. Die Kamera darf erstmals in die Umkleideräume der Spieler schielen. Ein Sommermärchen. Mein Gott, Klinsi. Und überhaupt – schmutzig machen sich ihre Hände nur die da ganz unten, weil sie sich nicht beherrschen können, bei der Arbeit auf dem Platz immer alles zu wörtlich nehmen. Sie haben Schuld, wenn was nicht funktioniert, Hartz IV-Parasiten, die Arbeit verweigern, weil sie nicht arbeiten, um am Ende, so seht und hört sie euch doch an, dann tatsächlich nicht mehr arbeiten zu wollen, sich damit auch noch brüsten. Diese Idioten: ein Foul der widerlichsten Sorte, gegen die eigene Mannschaft. Das wird Folgen haben müssen. Mein Gott, Klinsi: Wer in den ersten zwanzig Minuten nicht arbeitet, fliegt gleich vom Platz. Nur damit das mal klar ist. Anders funktioniert kein Mensch, sagt Hartz IV mit autistischer Entweder-Oder-Verlautbarungsmoral, mit dieser unser verpöbelter Intellektueller gesellschaftliche Prozesse unentwegt traktiert. Mein Gott, Klinsi. Es wird immer noch ekelerregender. Mein Gott, Sabine Christiansen. Es geht immer wieder noch etwas dämlicher. Der Faschismus, er kommt daher auf leisen Sohlen, rollstuhlbewaffnet oder, ganz Unschuld, im postpubertären Bubigesicht, das nicht älter wird, damit es kein Wässerchen trüben muss. Mein Gott, Klinsi, du siehst tatsächlich so aus, als meintest du es gut mit uns. Und dann ist er plötzlich doch da, der Faschismus, weltweit, als Farce, denn Geschichte wiederholt sich nicht. Und wieder will es keiner gewesen sein. Das ist wie an der Börse: richtig verlieren tut man nur ein mal.
Innen – Außen – Objektivierung: Zuweilen will auch ich nicht mehr so recht. Selbst schuld? Mag sein. Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite quäle ich mich vorwärts in diesem Roman von Axel Brauns. Ich habe ihn vorgewarnt, per eMail, es werde dauern, bis ich was zustande kriege, eine Stellungnahme. Problematisch. Ich muss etwas zustande kriegen. Denn der Autor hat mir ein Exemplar über seinen Verlag “Hoffmann und Campe†zukommen zu lassen, nachdem wir uns vielleicht gerade mal zehn Minuten unterhalten haben, wahrscheinlich waren’s nur fünf, zwischen zwei Pressevorführungen im Abaton. Um nicht zu sagen: wir kennen uns nicht. Dennoch will er wissen, was ich denke. Obwohl er die Seite “www.film-und-politik.de†kennt, wissen muss, dass ich nicht einfach bin. Anrührend. Weil überhaupt nicht selbstverständlich in einer Gesellschaft, in der Menschen kein Interesse füreinander aufbringen, ohne dass ihnen die Heuchelei aus allen Poren spritzt. Kann ich der Sache noch gerecht werden bei so viel erwiesener Ehre? Wie nun den Versuch einer Verobjektivierung wagen?
Vorzeitiger Erguss: Axel Brauns will die Welt nicht retten; er hat vielmehr ein Anliegen. Er ist kein Frauenversteher wie Günter Grass, so nach dem Motto: etwas mehr Renate Schmidt und alles wird besser. Dabei wissen wir es seit der Regierung Schröder: der Autismus von Frauen, die sich für emanzipiert halten, ist überaus ätzend, ähnlich demjenigen von Leuten, die sich für Sozialisten, Marxisten oder “radikal†halten, ohne das geringste Verhältnis zum sogenannten Bürger. Dem gegenüber spricht Axel Brauns Klartext. Das zeigen gleich zu Beginn Wortkonstruktionen wie die “Allmächtige†an. So nennt – auf Anregung von “Mitjäger†Hans – Timo seine Verflossene. Seit vier Jahren hält sie den gemeinsamen Sohn Malte unter Verschluss, bis sie endlich einem Vater-Sohn-Verhältnis zustimmt. Der Papa darf seinen Sohn von der Schule abholen. Aber nur, das Leben ist anstrengend, weil der Zufall es will, nachdem sich die Eltern – ich hoffe, meine Leseerinnerung trügt nicht – im Schanzenpark begegnet sind, nach langer Zeit, um, wenn auch zunächst ganz schön umständlich, erste Wiederbelebungsversuche miteinander zu wagen. Manchmal braucht der Zufall ätzend lange, bis er zur Notwendigkeit wird. Währenddessen hat sich einiges angesammelt und, schlimmer, verfestigt: Unentwegt ist Timo bemüht, eruptiv aufbrechende Schluckaufs unterm Deckel zu halten. Weil schon kleinste Eruptionen das Schlimmste befürchten lassen. Irgendwann kommt sowieso alles raus, fragt sich nur wie. Immer nur warten hilft auch nicht weiter. Dann will man auf einmal zu viel und das zu schnell. Timo weiß das, instinktiv, aus Erfahrung. Da heißt es aufpassen: auf dass die Knospe eines ersten Wiedersehens mit dem Sohnemann nicht schon vor ihrem Erblühen zugrunde gehe. Da hat er sich einschlägig von seinem Mitjäger Hans beraten lassen: bloß nichts Falsches, lieber gar nichts sagen, was der Sohnemann dann zur Allmächtigen tragen würde. Kinder warten nicht, sie fackeln nicht lange. Sie müssen das Warten erst noch lernen. Ein bisschen Sodbrennen bei der Allmächtigen und er würde seinen Sohn nie wiedersehen. Weil Erwachsene mit ihren kleinen Verletzbarkeiten nicht kommunizieren, geschweige denn sozialverträglich analysieren, als vielmehr mit Gewalt am liebsten alles falsch verstehen, noch während sie warten: innere Wortgesänge vor sich hin zelebrieren, um nicht zu begreifen, was Menschen zusammen oder auseinander hält. Sie wissen nur, wie was nicht geht. Sie wissen nicht zu ermessen, eine Scheißarbeit, dass und wie Beziehungen sich immer wieder neu und anders zusammen setzen: (re)konstruieren (müssen), wollen sie weiter existieren oder einfach nur nicht versteinern, gar verwesen im Alltagstrott. Irgendwann riechen Strukturen und mit ihnen verseilte Menschen nur noch nach Verwesung. So was färbt ab. Von der PDS angebumst, fängt Oskar auch schon zu riechen an. Der ist vielleicht gar nicht mehr zu retten.
Axel Brauns mit seinen im Telegrammstil hingeworfenen Wortkaskaden schreibt schon mal nicht so wie Germanisten der alten Schule es gern haben. So gelesen, und wahrscheinlich nicht nur deshalb, lässt sich sein Roman gut ertragen. Ich scheine für zeitgenössische Romane der alten Schule nicht geschaffen. Immer wieder die gleichen Egozentrismen: Wollen die Autoren was von mir? Wenn ja, was, außer dass ich ihre Bücher kaufe? Was wollen sie sagen, außer dass sie da sind, wahrgenommen werden wollen, selbstverständlich weil sie für das Gute sind, weil sie wissen, dass Menschen gut sind, vor allem Frauen. Das Gute, das weibliche im Manne, z.B., gilt es aus dem Innen zu befreien, auf dass es ein Außen befärbe, moralisch und ethisch imprägniere, wie Habermas so schön sagt. Dafür gelte es, das Gute – wir wollen fair bleiben: wahrscheinlich nicht nur das Weibliche – zu identifizieren, als ein Außen freizulegen, “in dem zu finden, was Menschen jeden Tag tun, wenn sie miteinander kommunizierenâ€, ohne freilich zu wissen, dass sie Gutes tun, wenn sie reden, noch während sie – schließlich ist die Welt schlecht – unentwegt Böses tun. Ist das nicht wunderbar? Den Satz “Gott, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun†endlich mal wörtlich nehmen können, ohne dass es sich, bei so viel vorbereitender Verbalerotik, darin Habermas ein Meister seines Fachs, doof anhört. Den Papst im Huckepack. Das Gute in Hartz IV entdecken, eine Sisyphusarbeit, wohl wahr, weil auch der Hartz IV-Empfänger erreicht sein will. Selbst er – gleiches Recht für alle – das Gute aus dem heraus wachsen fühlen soll, was wir als das Gute einfach nur nicht wahrzunehmen gewillt sind, wir Dummerchen, weil wir Sünder sind. Ja, und für mehr Aufklärung müssen innere Wortgesänge, das Gute verewigend, ihren Weg auf weißes Papier finden. Marcel will das nicht begreifen. Auch unser Nobelpreisträger Günter schwitzt vor weißem Papier, oh Drohung, ganz fürchterlich, obwohl er gescheit ist, gescheiter als die meisten, so gescheit, dass noch durch abgestandenen Schweiß er sich geadelt fühlt.
Es braucht Geduld und Spucke, um sich durch Gestrüpp, merkwürdige Konstruktionen wie “Räuspertaste†oder “Hortfeuer†zu “gugeln†oder “wwwühlenâ€. Es gibt Hortfeuerwaffen, im “Hortfeuer aufgewachsen seinâ€. Worte wollen vielerlei bedeuten, zumindest einsame Eindeutigkeiten vermissen lassen, um zu beleben, um dann wieder Eindeutigkeiten: ein Eigenleben zu suggerieren, ein Innen, als existierten sie als eigenständige Entitäten, wiewohl, oh Drohung, durch sprechende Menschen hindurch, in den unterschiedlichsten Farben. Nie so gemeint wie gesagt oder gesagt wie gemeint, gucken Worte einen an, boshaft, bisweilen richtig fies. Muss man, wenn “angebumstâ€, mit dem Hortfeuer rechnen? Die meisten Redner machen den Eindruck, als gingen Worte unproblematisch durch sie hindurch, umso mehr, je mehr sie einem etwas klar machen wollen. In Wirklichkeit wollen sie nichts, und wenn doch, dann versteh’ ich nicht, was. Gott sei Dank sucht Eggi einen Job. Das versteh’ ich schon mal. Joachim hat leider schon einen. Desgleichen sein muggeliger Bettvorleger. Sie sondern Worte ab ohne die geringste Spur. Indifferent. Wenn sie fertig sind, bin ich es auch. Anstrengend, immerzu angestrengt zuhören und nix verstehn, was sie wollen, außer dass sie vielleicht das behalten wollen, was sie haben. Ihren Job. Nur sagen sie es nie, dass sie es wollen. Betriebsgeheimnis. Vielleicht dass sie aus der Entfernung doch ein wenig wirken, zu verstehen sind, signalgesteuert bei Hörern etwas auslösen, man weiß nie Genaues nichts. Aber sein muss da was. Zumindest hört man Signale und sehen tut man stramm stehendes Fleisch, das einen auch schon mal böse anguckt, wenn man – nichts verstehend – mit einer dummen Bemerkung dazwischen quatscht.
Axel Brauns hat Spaß an Wortkonstruktionen. Man sieht von vorn herein: es sind Konstruktionen. Kleine Theoriegebilde. Vielleicht bewirken Worte, ausgestattet mit Eigenständigkeiten, ja was, was noch nicht ist, abgespalten von einem menschlichen Innen, treten sie diesem als ein Außen entgegen, um zu provozieren. Probleme über Probleme. Immerzu wieder setzen Worte sich anders zusammen, um Eigenständigkeit zu suggerieren, da stehend, immer wieder, wie anstrengend, der Gewöhnung bedürftig, weil, so funktioniert Lernen, auf den ersten Blick nie klar ist, was ist, bis durch sie hindurch endlich etwas transportiert wird, um aufgeschnappt zu werden, das fesselt, ein Gedanke, der innehalten lässt und belebt nach all den Mühen. Zu viel Mühe für zu wenig Licht? Ein wenig Licht könnte mehr sein als man erwarten darf. Wer will wissen, wie viel Licht der Mensch braucht? Den Menschen gibt es nicht. Wie all die Mühen und das, was sie hervorbringen, beurteilen auf ihren Wert?, aus der je eingeschränkten Perspektive einer einzelnen Existenz? “Tag der Jagd†ist fragwürdig, Grenzen werden nicht gewahrt als gäbe es sie nicht. Menschen werden abgeknallt, ausgeknipst, auf der Jagd. Auch Michaela macht sich auf die Jagd. Sie weiß von früher wie das geht. Plötzlich ist alles wieder da: Jagdfieber. Problemlos von einem Leben in das andere wechseln, so als wäre das Leben, das man gerade führt, nichts wert, weil die eigenen Kinder tot sind, das “Hortfeuer†reanimierend – gegen jeden und alles. Wie von Sinnen – Kopf ab! – mit Sinn und Verstand: kalt vorausberechnen, was man tun wird, weil Hortfeuer nie ganz erlischt und es nur eines Funken bedarf, um es in ein alles fressendes Flammenmeer zu verwandeln. Autisten sind vielleicht nur deshalb merkwürdig, fragwürdig, weil sie Fragen stellen aus einem unbestimmten Gefühl heraus, nicht fertig zu sein. Nie fertig sein. Das haben sie uns vielleicht voraus: von der Pike auf gelernt. Es spricht nicht gegen den Roman, wenn bestimmte Grenzen, aus welchen Gründen auch immer, nicht gewahrt werden. Wo die liegen, hängt von der gesellschaftlichen Entwicklung ab. Mit der ist es immer weniger gut bestellt. Umso schwieriger wird es, Grenzen vernunftgründig zu identifizieren. Doch werden sich Fragen durch Fragwürdigkeiten nie vermeiden lassen. Grenzen verfehlen ist Voraussetzung, damit was hängen bleibt, ein Gedanke, der innehalten lässt, um nicht sekundenschnell in der Wüste zu versanden, kurz, um zu verstehen. Weiß man zu ermessen, dass fast nichts hängen bleibt, wenn nur signalgesteuert abgewickelt wird?, wenn signalgesteuert gefühlige Reflexe hoch kochen?, beim Lesen, bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen?, wenn Gedanken beim Lesen nicht selbst erarbeitet oder produziert werden können?, wenn man immerzu nur gehalten ist, sie aus der Entfernung aufzunehmen. Gedanken bedürfen der Nähe, und Nähe braucht Zeit. Nähe ist anstrengend, bisweilen Angst einflößend, und dennoch muss Nähe zum Objekt nachhaltig gewollt sein. Timo und Mia wissen das, instinktiv, als sie sich kennen lernen. Und ich glaube, Axel Brauns weiß es zu ermessen. Die Instinkte seiner Figuren sind geschwätzig in der Hoffnung, der Leser möge etwas finden, das innehalten lässt, Konstruktives: den Kleinstbaustein einer Theorie, um vielleicht etwas, was noch nicht ist, soziale Realität, sozialverträglicher zu konstituieren, immer noch mal, bis es endlich sitzt.
Aber der Autor hat’s eilig; er kann Informationen gar nicht schnell genug loswerden. Er weiß um die Bedeutung von Information. Kaum dass ich ihn in fünf Minuten kennen gelernt, erzählte er mir, dass er vom Autismus geprägt sei, einen Roman geschrieben habe über seine autistische Kindheit, ein Bestseller (“Buntschatten und Fledermäuseâ€). Autismus: ich weiß kaum, was das ist. Nunmehr habe er einen neuen Roman, diesen Roman, geschrieben, ein Krimi, “Tag der Jagdâ€. Ziemlich viel auf einmal in 5 Minuten, denke ich. Sei’s drum. Worte sollen, hingeworfen, ihren Weg machen, wie die Wortkonstruktionen in “Tag der Jagdâ€. Das Wort “die Allmächtige†hat es mir angetan. Die zwei Sätze aus dem Munde eines achtjährigen Kindes ebenfalls. Und noch einiges mehr. Nunmehr lebe ich damit. Wer will wissen, was noch so alles folgt, welche Wege Informationen nehmen, welche Wege sie brauchen, welche Winkelzüge sie nehmen müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Sie müssen erst mal raus, hingeworfen werden, schnell noch ein Wort. Um zu Gestrüpp zu verknäueln?, zu versanden?, oder doch etwas zu bewirken, nachdem mit viel Mühe entknäuelt. Oder Fragmentierungen, im Telegrammstil, wie hingeworfen, genau wie die Figuren im Roman. So mag sich Timo mit seinem Sohn Malte fühlen, hingeworfen, wie bestellt und nicht abgeholt, als er ihn zum ersten Mal seit vier Jahren zwischen zwei Schulstunden, während der großen Pause, wiedersehen durfte, weil die Allmächtige es erlaubte, aus einer hingeworfenen Laune heraus. In solchen Situationen entschädigen die Kleinen für all das, was jahrelang ungelebt liegen geblieben sein mag, weil Erwachsene immerzu nur warten, um dann zu intensive Gefühle, weil zu lange und ewig unterm Deckel gehalten, zu produzieren. Eine ungeheuerliche Überforderung, das zu intensive Gefühl, für unsere Kleinen. Zuweilen ins Manische – zum einsamen Hochgefühl – stilisiert, verfehlen Gefühle soziale Realitäten immer. Timo merkt das instinktiv dort, wo er sich zurücknehmen muss, um schnell an etwas anderes, vermeintlich Kindgerechtes zu denken, auch wenn er selbst dafür gar nicht in Stimmung ist, weil ihn andere, so gar nicht kindgerechte Dinge quälen. Das Blutbad bedrückt ihn gerade. Er muss davon wegkommen, sich für Malte in Stimmung flunkern und ist dadurch nicht mehr fähig, seiner Person, der Welt um sich herum, klare Konturen zu verleihen. Alle Figuren leben sich so aus in diesem Roman. Ohne Konturen. Irgendwie. Mit mehr oder weniger schlimmen Folgen. Immerzu kommen die Figuren mit dem Zeichnen nicht hinterher. Sie können’s nicht: Zeichnen. Sie gugeln sich durch, werfen etwas hin, schreien jemanden an, aus heiterem Himmel, den Kleinen z.B., der es gleich zur Allmächtigen trägt, oder sie machen lieber gar nichts, weil ohnehin alles nur schief geht, was sie unter normalen Bedingungen problemlos machen würden. Unterlassene Hilfe mit System. Ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit. Gerade Kinder kommen ohne Konturen nicht zurecht. Sie verhungern vor dem Computer, erfinden dumme Sprüche. Werfen sie hin, um signalgesteuert Reaktionen – Entsetzen bei Timo – wie vor dem Computer zu produzieren. Sie vereinsamen, ohne es zu merken, ohne dass es jemand merkt. Zuweilen bleibt es nicht beim Spruch, und dann passieren wirkliche Blutbäder. In solchen Augenblicken darf gefühlt werden, signalgesteuert, auf allen Kanälen. Und wehe dem, der dann mit einem dummen Spruch kommt: “Lass uns ein Blutbad anrichten.†Der muss mit dem geballten Hortfeuer rechnen. Systemische Ungereimtheiten lassen Kinder in der Entwicklung zurück, um später, als Erwachsene – mein Gott, Klinsi – nicht älter zu werden, um schließlich vor ihrer Zeit zu sterben. Sozialunverträglich. Hysterisch. Kurzum, die Objekte, auf die sich Gefühle auftragen – Substrat zu zeichnender Verobjektivierung –, liegen ätzend lange irgendwo und irgendwie nebeneinander. Sie fügen sich zu einem Ganzen nicht zusammen, erst daran ein Gefühl sich sozialverträglich laben könnte.
Franz Witsch