Breitgetretenes Erbauungstraktat

vom Krimiblogger

Ausnahme
Christian Jungersen: Ausnahme

Von Spannungsliteratur erwartet man gemeinhin, dass sie spannend ist, sonst wäre sie ja keine Spannungsliteratur. Eine Binsenweisheit. Manche Leser geben sich dann auch damit zufrieden – war Spannungsliteratur spannend dann war es gute Spannungsliteratur. Aspekte wie Sprache, Dramaturgie und Figurenzeichnung geraten schnell aus dem Blickwinkel. Noch problematischer wird es, wenn Spannungsliteratur Botschaften – etwa zur Moral – vermitteln will. Hier bewegen sich beide, Autor und Leser, schnell auf sehr brüchigem Eis. Ein Beispiel dafür ist der aktuelle Roman des dänischen Autors Christian Jungersen. Sein Buch „Ausnahme“ ist ein spannender Roman, bei dem das Etikett Krimi nicht so recht passen will. Dafür arbeitet Jungersen mit zahlreichen Versatzstücken, die er aus der Kriminalliteratur entliehen hat. Die alte, klassische Frage „Wer war es?“ taucht bei ihm ebenso auf wie psychologische Porträts oder der Zwiespalt, ob es sich bei bestimmten Vorfällen um Unfälle oder Mordanschläge handelt. Letztlich aber geht es ihm vor allem um eine große moralische Frage: Unterliegen wir in unserem Handeln einem – wie auch immer gearteten – Determinismus oder handeln wir, ob gut, ob schlecht, aus freiem Willen?

Für solche großen philosophischen Fragen muss natürlich ein entsprechender Hintergrund her. Den liefert das Dänische Zentrum für Information über Völkermord (DZIV) in Kopenhagen. An diesem fiktiven Ort, an dem das Grauen über Massenmorde, Völkervertreibung und Rassenwahn dokumentiert und wissenschaftlich aufgearbeitet wird, arbeiten vier Frauen, die sich gegenseitig, wie es so schön im Klappentext heißt, „das Leben zur Hölle“ machen. Iben, Malene, Camilla und Anne-Lise sind Kolleginnen, die sich täglich mit dem Schrecken von Genoziden beschäftigen. Das theoretische Wissen über die Psychologie des Bösen ist also vorhanden, jetzt – könnte man zynisch sagen – gilt es, dies in die Praxis umzusetzen. Mobbing lautet das Stichwort und Jungersen zeigt geradezu exemplarisch auf, wie das funktioniert. Ausgrenzung, Gerüchte, die Nichtweitergabe von wichtigen Informationen an Kolleginnen, Kumpanei, Gruppenbildung, Feindbilder bis hin zu Nachstellungen, Schnüffeln in fremden Schubladen und Computern und sogar Hauseinbrüchen – die vier Damen schrecken im Laufe der Geschichte vor nichts zurück.

Die Ausgangskonstellation ist dabei ebenso klassisch: Iben und Malene, die als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen schon länger am DZIV arbeiten, sind auch privat befreundet. Camilla, die Sekretärin, gilt als stille Mitläuferin und Anne-Lise, die erst seit kurzer Zeit als Bibliothekarin am DZIV angestellt ist, wird zum Opfer der mobbenden Kolleginnen. Sie fühlt sich ausgegrenzt. Was als Unstimmigkeit unter Kolleginnen beginnt, entwickelt sich zu einer grausamen Tortur für alle vier Frauen. Iben und Malene erhalten Droh-E-Mails, die ihre Ermordung ankündigen. Der Absender lässt sich zunächst nicht zurück verfolgen und so steht die Frage im Raum, wer diese E-Mails geschickt hat? Ein gesuchter Kriegsverbrecher, über den die Mitarbeiterinnen des DZIV geschrieben haben, oder war es doch eine von den Kolleginnen?

Wissenschaft statt Literatur

Die Frage bleibt zunächst ungeklärt und Jungersen beschreibt seine Figuren im Wechsel, so dass nach und nach ihre jeweiligen biografischen Hintergründe offenbar werden: Iben, die nach einer Geiselnahme in Kenia an einem Trauma leidet. Ihre Freundin Malene, die an Rheuma erkrankt ist und Probleme mit ihren Männerbeziehungen hat. Anne-Lise, die unter dem Druck ihrer mobbenden Kolleginnen immer mehr zerbricht und schließlich Camilla, die aus bescheidenen Verhältnissen kommt und ein Geheimnis hat, das sie eigentlich für die Arbeit am DZIV disqualifiziert. Nach und nach spitzt sich die Situation im Büro zu: Auf Anne-Lise wird ein Anschlag mit Blut verübt, Malene bekommt einen schweren Rheuma-Schub, nachdem ihre Tabletten gegen Placebos vertauscht wurden. Iben schließlich wird Zeugin eines tödlichen Unfalls, bei dem nicht klar ist, ob es sich wirklich um einen Unfall handelt oder ob es doch ein Anschlag war und ob er vielleicht ihr gegolten hat. Bis zu diesem Punkt bleibt der Roman vor allem Eines: eine trockene, psychologische Studie über Mobbing.

Jungersen baut zwar eine spannende Handlung mit spannenden Nebensträngen auf, aber seine Sprache ist so trocken wie der Aktenstaub im DZIV. Seine Distanz zu den Figuren ist so groß, dass sie alle wie Versuchspersonen in einem psychologischen Experiment erscheinen – ähnlich denen, die im Roman immer wieder erwähnt werden. Das ist nüchterne Wissenschaft – keine lebendige Literatur. Stilistisch wird es noch schlimmer durch die Zeitwahl. Den größten Teil seines Romans erzählt Jungersen im Präsens, selbst Ibens Rückblenden werden in der Gegenwartsform erzählt, doch dann gibt es Rückblenden, bei denen er aus unverständlichen Gründen ins Präteritum wechselt. Kurz: Der Roman ist sprachlich eine Katastrophe. Warum fällt so etwas eigentlich keinem Lektor auf?

Aberwitzig wird der Roman an seinem Ende. Nach vielen Seiten psychologischer Beschreibung nimmt das Buch eine kriminalistische Wendung, die unglaubwürdig und aufgestülpt erscheint. Einer der gesuchten Kriegsverbrecher taucht in Kopenhagen auf und nimmt mehrere Geiseln. Was folgt ist eine hanebüchende Entführung, die dem Leser nicht nur jeden Glauben an die dänische Polizei raubt, sondern auch noch in einem großen Show-down endet, bei dem Jungersen endlich seine große moralische Botschaft unters Volk jubeln kann. Es gibt das Gute und wir müssen uns nur dafür entscheiden und entsprechend handeln. Die Bösen siegen trotzdem. Daran kann man ja gerne glauben, man kann das auch gerne vertreten – aber braucht es dafür ein auf 660 Seiten breitgetretenes Erbauungstraktat in einer schauderhaften Sprache? Und wo wir gerade bei der Moral sind: Rechtfertigt gefesseltes Lesen jede noch so künstliche Figur, zielloses Springen in der Zeitform oder übergestülpte Krimiversatzstücke? Muss man sich als Freund von spannender Literatur – und „Ausnahme“ ist spannend – eigentlich jeden dramaturgischen Unsinn gefallen lassen?

Christian Jungersen: Ausnahme / Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. – München : Piper Nordiska, 2006
ISBN-13: 978-3-492-04771-5
ISBN-10: 3-492-04771-8

Originalausgabe: Christian Jungersen: Undtagelsen. – Kopenhagen : Gyldendal, 2004

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