Platzpatrone – Folge 5: Nicht gefühlsecht

vom Krimiblogger

Wo kein Zeuge ist
Elizabeth George: Wo kein Zeuge ist
Diese Besprechung enthält Spoiler

Haben Sie in den letzten Wochen auch so gelitten? Wenn Sie zu den Tausenden von Lesern und vor allem Leserinnen von Elizabeth George 13. Roman „Wo kein Zeuge ist“ gehören, sind zerknüllte und feuchte Taschentücher kein Wunder. Was hat sich Mrs. George nur dabei gedacht, ihren Inspektor Lynley mit der „größten persönlichen Tragödie seines Lebens“ (Klappentext) zu konfrontieren? Diese Frage bewegt die lesende Nation, wie in verschiedenen Foren nachzulesen ist. Gelitten habe ich auch, allerdings aus anderen Gründen.

Vor lauter Tragödie verliert man als Leser nämlich ganz schnell den eigentlichen Kern des Romans aus den Augen. Ein Serienmörder tötet minderjährige Jungen. Das Muster – Serienmörder gehen ja bekanntlich immer nach einem Muster vor – entdeckt die Londoner Met allerdings reichlich spät, erst beim vierten Opfer. Die Jungen hatten alle eine dunkle Hautfarbe. Wenn die Londoner Polizei so etwas verschläft, kann das politische Folgen haben, schließlich bescheinigte 1999 der MacPherson-Report den Londoner Gesetzeshütern „institutionellen Rassismus“. Dieser Report wird übrigens einmal ganz beiläufig von der Autorin erwähnt. Aber das lenkt nur ab. Schließlich geht es vor allem um Thomas Lynley und Barbara Havers, deren Ermittlungen eben von diesem Rassismus überschattet werden. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, wird Winston Nkata eng in die Pressearbeit der Polizei eingebunden – schließlich ist er ein schwarzer Polizist, der seinen Weg aus dem Ghetto gefunden hat.

Die Spuren führen Lynley, Havers und Nkata zu einem dubiosen Hilfsverein für gestrandete Jugendliche sowie zu einer Gruppe von Kinderschändern. Entsprechend bunt ist dann auch das Figuren-Ensemble, das George aufbietet: Eine nicht ganz zu durchschauende Leiterin des Jugendprojekts, ihre zahlreichen, willfährigen Helfer und ein schmieriger Zauberer, der sich schnell als Zuhälter für zahlungskräftige Männer entpuppt, die es mit minderjährigen Jungs treiben. Was bei all diesem sozialen Schmutz aus der Feder von Elizabeth Georg immer ins Auge fällt: Er ist Mittel zum Zweck. Kinderschänder lösen Widerwillen aus, Rassismus ist furchtbar und dubiose Jugendleiterinnen, die mehr an Sex und Karriere als an die Kinder denken, sind Furien, denen man lieber nicht begegnen möchte. Mit Realismus hat dies nichts zu tun. Auch das Etikett „Gesellschaftsroman“ – wie in einigen Rezensionen zu lesen – hat bei Elizabeth George nun wahrlich nichts zu suchen.

Gefangen in der Funktionalität

All diese sozialen Konflikte und Probleme sind Attrappen, schweben wie schlechte Bühnenbilder über der Szenerie, in der George vor allem das Privatleben ihrer Ermittler inszeniert. Rassismus, Pädophile oder die sozialen Brennpunkte Londons interessieren die Autorin nur so lange, wie sie in ihren Augen gut als kontrastreiche Kulisse zum bürgerlichen Leben ihrer Polizisten funktionieren. Hintergründe, Ursachen, Zweifel oder das Hinterfragen dieser Zustände im Schmelztiegel der britischen Hauptstadt würden die Leserinnen nur verwirren oder gar ins Grübeln bringen. So schlägt man als Autor Kapital aus dem Leid anderer Leute. Das ist das wirklich Ekelerregende an den Romanen der Elizabeth George.

Der bis dahin ungelöste Kriminalfall gerät zudem nach etwa 600 Seiten ganz aus dem Blick, denn jetzt zieht Lynleys persönliche Tragödie herauf. Seine schwangere Frau Helen wird hinterrücks angeschossen. Weil sie zu spät ärztlich versorgt wird, liegt sie hirntot im Krankenhaus und Lynley muss sich entscheiden: Lässt er die Maschinen, die Helen am Leben erhalten, weiter laufen, bis das ungeborene Kind, möglicherweise mit bleibenden Schäden, gerettet werden kann oder lässt er sie abschalten? Eine hoch moralische Situation also, die George als dramatische Spitze an ihre maue Kriminalhandlung heran klatscht. Was die Autorin dann auf den etwa 200 restlichen Seiten ihres Wälzers abspult, zeigt einmal mehr, dass es ihr nicht darum geht, solche Themen ernsthaft literarisch zu bearbeiten, sondern funktionale Texte abzuliefern, die vorgeben gefühlsecht zu sein, die aber durch und durch berechenbar und hochgradig konstruiert sind. Das ist Schmierentheater in seiner reinsten Form.

Handwerklich mögen die Romane der Elizabeth George gut gestrickt sein. Schließlich erreichen sie ihr Ziel und viele Leserinnen weinen eine Träne ins Taschentuch. Abstoßend bleiben die Romane wie „Wo kein Zeuge ist“ dennoch, denn Orte, Handlung, besonders aber ihre Figuren werden auf ihre reine Funktionalität reduziert und bleiben darin gefangen. Sie müssen exakt berechnete Gefühle bei den Leserinnen auslösen, Freiräume für sie und für die Leserinnen gibt es nicht. Man mag einwenden, dass Liebesschmonzetten und Groschenhefte das auch tun – nur geben die nicht vor, Literatur zu sein, die zumindest in Ansätzen in der Wirklichkeit verankert ist oder diese reflektiert. Nein, Elizabeth George schreibt den wohl schlimmsten und widerlichsten Schund, den es zur Zeit auf dem Krimimarkt gibt.

Elizabeth George: Wo kein Zeuge ist : Ein Inspektor-Lynley-Roman / Deutsch von Ingrid Krane-Müschen und Michael J. Müschen. – München : Blanvalet, 2006
ISBN-10: 3-7645-0165-0
ISBN-13: 978-3-7645-0165-5

Originalausgabe: Elizabeth George: With No One As Witness. – New York : HarperCollins, 2005