Ein Genre schreibt sich nach oben

vom Krimiblogger

Frohlocket, oh Ihr Krimileser: Die Literatur kriminalisiert sich. Endlich im Buchlanden Ihres Vertrauens: Nicht nur der Krimi mit der gesunden Extraportion Literatur sondern jetzt auch die Literatur mit der scharfen Würze von Suspense und Crime. Rosig-kriminelle Zeiten sind angebrochen, jedenfalls wenn man den zwei Kommentaren des von mir geschätzten Tobias Gohlis folgt, die er anlässlich der Bekanntgabe des Deutschen Krimipreises veröffentlicht hat.

Niemand wird ernsthaft das Renommee des Deutschen Krimipreises in Frage stellen – schließlich quoll das deutsche Feuilleton in den letzten Tagen über mit Besprechungen, Autorenportraits und Hintergrundberichten zu den ausgezeichneten Titeln. Auch die Bedeutung der Krimiwelt-Bestenliste soll nicht in Frage gestellt werden, wandern doch regelmäßig die Romane auf der Bestenliste hinüber in die Bestsellerlisten der Nation. Auch wollen wir uns nicht mit der merkwürdigen Einstimmigkeit der Urteile beschäftigen. Alle ausgezeichneten Romane des Deutschen Krimipreises waren auch irgendwann einmal auf der Krimiwelt-Bestenliste – das entspricht dem Harmoniebedürfnis des deutschen Feuilletons. Lassen wir die Feuilletonisten und Leser ausnahmsweise mal am Rande stehen. Wesentlich interessanter (und tragischer) sind die Ein- und noch viel mehr die Auslassungen in den beiden Texten des Jury-Vorsitzenden der Krimiwelt-Bestenliste.

So schreibt Gohlis zum Debütroman „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel in seiner „Zeit“-Glosse:

„Schenkels Mittel sind modern – eine fiktiv dokumentarische Rede in den Zeugenaussagen, Collage –, doch nirgendwo verrät sie den Mord an die Kunst, noch desavouiert sie die Lust des Lesers auf Enträtselung.“

Modern also sei Schenkels Roman, weil die Autorin mit Zeugenaussagen und Collage arbeitet. Das ist ungefähr so modern wie etwa Wilkie Collins, der schon vor fast 150 Jahren ähnlich arbeitete.

In Gohlis Krimitagebuch lesen wir das Folgende:

„Wer die Titel kennt, die seit anderthalb Jahren auf der KrimiWelt-Bestenliste stehen (…), weiß längst, dass die besten unter den zeitgenössischen Kriminalromanen mit Raffinesse die literarischen Verfahren, mit denen die unter Kunstanspruch stehende Belletristik experimentiert, in ihren kriminalen Stoffen und Erzählstrukturen verwendet. Genauer: härtet, auswuchtet und auf Lebens- wie Literaturtauglichkeit testet. Während die avantgardistische Literatur der Moderne sich in Formexperimentierei und immer hermetischerer Seelenspiegelei zu verrennen droht(e), hat sich der Krimi der Realität dieser Moderne angenommen: Identitäts- und Normverlust, Zweifel am Augenschein, Gewalt in allen ihren Formen und Ursachen.“

Diese Aussagen haben es in sich. Kurz gesagt: Krimischreiber, bediene Dich der sprachlichen Verfahren Deiner hochgeschätzten Belletristik-Genossen und teste sie literarisch an der Lebenstauglichkeit. Noch kürzer: Schreibe Dich nach oben! Dann wird nicht nur der Kriminalroman eine reichhaltige Artenvielfalt entwickeln, dann werden nicht nur die „Feingeister“ auf das Schmuddelgenre aufmerksam – nein, auch der Lorbeerkranz der kritisierenden Ästheten wird der Deine sein!

Dass es diese Experimente schon längst gegeben hat – von Dürrenmatt über Hettche bis Glavinic, um nur einige deutschsprachige Autoren zu nennen – verschweigt Tobias Gohlis leider bzw. handelt es mit dem lapidaren Hinweis in seinem „Zeit“-Artikel ab, dass die Entwicklungen „im leicht verspäteten Deutschland“ nicht wahrgenommen wurden. Warum ist das so und wer hat hier etwas verschlafen?

Verwirrung als literarisches Konzept

Wesentlich unglücklicher ist allerdings die fehlende Nachfrage, ob solche „Experimente“ denn überhaupt sinnvoll für das Genre sind und warum dies mehr oder minder zwangsläufig zu einer guten, wenn nicht gar besseren Kriminalliteratur führen soll. Immerhin schränkt Gohlis im vorletzten Absatz ein:

„Der Krimi als Härtetest schöner Geister, darauf scheint es hinauszulaufen, wenn man einen Blick auf die Frühjahrsproduktion wirft. Statt einer Literarisierung der Kriminalromane ist Kriminalisierung der fiktionalen Literatur angesagt. (…) Mal sehen, wie es ihnen gelingt.“

Was Gohlis so locker-flockig mit leicht ironischem Einschlag beschreibt, gab und gibt es längst, auch im deutschsprachigen Raum. Dass dies eher selten zu wirklich guten Kriminalromanen führt, zeigt zum Beispiel der hoch gelobte Paulus Hochgatterer, dessen Roman „Die Süße des Lebens“ als Kriminalroman dürftig – oder um in der Terminologie zu bleiben: schwachbrüstig – erscheint. Die Geschichte um den mutmaßlichen Mord an einem alten Mann, dessen Enkelin die Tat vermutlich mit angesehen hat, daraufhin in Schweigen verfällt und nun von einem Psychologen wieder zum Sprechen gebracht werden soll, ist unter ästhetischen Aspekten allenfalls ein Abklatsch neuer deutschsprachiger Psycholiteratur. Mit Hilfe zahlreicher Erzählperspektiven versucht Hochgatterer nicht nur den Fall aufzuklären (wobei dies immer mehr in den Hintergrund rückt), er entwirft auch das Psychogramm einer österreichischen, allerdings fiktiven, Kleinstadt. Hochgatterers reichlich zerfaserter Roman bleibt ziellos: Psychogramm, Aufklärung, Kriminalfall, der Wahnsinn der Welt – worum geht es hier eigentlich? Verwirrung als literarisches Konzept – was ist daran inhaltlich wie in der sprachlichen Umsetzung neu? Die Krimielemente halten bei Hochgatterer einen armseligen Plot zusammen – das nenne ich einen literarischen Missbrauch schlechthin.

Dabei ist Hochgatterer, als Beispiel eines Hochliteraten, der sich in die Niederungen des Kriminalromans begibt, kein Einzelfall: Wer erinnert sich noch an die „Dunklen Seiten bei Nymphenburger“, einer Reihe, bei dem (angeblich) hochrangige Autoren sich auf das Genre Krimi einließen und Krimiautoren nun Hochliteratur schreiben sollten? Vermutlich kaum jemand, denn das Experiment fand fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und leider auch in den meisten Fällen zu Recht.

Ausgeschlachtet und doch lebendig

Widersprüchlich wird Gohlis Text mit folgender Aussage: „Während die avantgardistische Literatur der Moderne sich in Formexperimentierei und immer hermetischerer Seelenspiegelei zu verrennen droht (e), hat sich der Krimi der Realität dieser Moderne angenommen (…)“. Warum, ist man versucht zu fragen, soll der Krimi sich dieser „Formexperimentierei“ überhaupt annehmen, wenn sie sich doch verrannt hat? Warum entdecken „Hochautoren“ den Kriminalroman für sich? Weil sie die Beliebig- und Belanglosigkeit, die Form- und Haltlosigkeit ihrer modern bis postmodernen Texte leid sind und den Kriminalroman mit seinen vermeintlich klaren Strukturen als sicheren Halt und Hafen entdecken? Weil sie – wie viele Leser übrigens auch – den Wunsch nach gut erzählten Geschichten verspüren?

Was diese Hochliteraten – und offensichtlich auch so mancher Feuilletonist – übersehen: Der Kriminalroman hat aus sich selbst heraus eine wunderbare Vielfältigkeit gestaltet. Er braucht keine „Feingeister“, die ihn retten oder voran schreiben, das haben Autoren wie Derek Raymond, Ross Thomas oder James Ellroy an der englischsprachigen Front, Ulf Miehe, Pieke Biermann oder Detlef B. Blettenberg auf der deutschsprachigen Seite schon vor Jahrzehnten getan – und tun es, sofern sie noch leben, immer noch. „Identitäts- und Normverlust, Zweifel am Augenschein, Gewalt in allen ihren Formen und Ursachen“ – für viele Krimiautoren schon seit Jahrzehnten und in vielfältiger Form Themen. Tragisch, dass eine Krimijury dies erst jetzt erkennt.

Wenn ein Pete Dexter für seinen Roman „Train“ von vielen Kritikern gelobt wird, dann auch, weil er vermutlich ohne den Einfluss und der Vorarbeit all dieser schmuddeligen Pulp- und Noir-Typen nie so einen Roman hätte schreiben können. Jene Autoren also, die der Feuilleton-Betrieb seit Jahren mit Ignoranz bestraft – aus welchen Gründen auch immer.

Es spricht ja nichts dagegen, wenn Genregrenzen (sofern es so etwas überhaupt gibt und wer will definieren, was ein Krimi ist?) übertreten werden, wenn sich Literaturformen gegenseitig befruchten. Wenn aber Gohlis von der „Kriminalisierung der fiktionalen Literatur“ spricht, dann befürchte ich nichts Gutes. Zu oft haben die „Feingeister“ den Kriminalroman ausgeschlachtet und sich um die Kriminalliteratur einen Dreck geschert. Dem Krimi hat es letztlich nicht geschadet, der lebt in vielen, oft durchaus kritikwürdigen, Varianten munter, und vor allem durch sich selbst, weiter. Bis dies Jurys und Feuilletonisten erkennen, dürften viele weitere Jahre ins Land gehen.