Kaltes Kunstprodukt
vom Krimiblogger
Jan Costin Wagner: Das Schweigen
Der Titel hält, was er verspricht: Auf den über 280 Seiten des neuen Romans von Jan Costin Wagner herrscht eisiges Schweigen vor. Kein Geplapper, kein überflüssiges Wort, dafür knappe, funkelnde Deskription von Seelenzuständen und wohlgeschliffene Dialoge in Halbsätzen. Angesichts der Verbrechen, die im Roman beschrieben werden, ist jene beredete Stille verständlich. Sinikka Vehkasalo, ein junges Mädchen aus dem finnischen Turku, ist verschwunden und zwar genau an jener Stelle, an der vor 33 Jahren schon einmal ein Mädchen, Pia Lehtinen, verschwand. Monate später wurde ihre Leiche aus einem See gezogen. Ein Kreuz auf dem Feld, auf dem Pia vergewaltigt und ermordet wurde, erinnert nicht nur den damals ermittelnden Kommissar Ketola dran, dass der Fall nie aufgeklärt wurde. 33 Jahre später ist Ketola im Ruhestand und sein ehemaliger Kollege Kimmo Joentaa soll nun die verschwundene Sinikka finden. Blutspuren an jener Stelle, an der schon Pia starb, lassen vermuten, dass auch Sinikka nicht mehr lebt. Ob es der gleiche Mörder wie damals war oder ob ein Nachahmungstäter am Werk ist, muss Joentaa klären.
Doch Kimmo Joentaa erscheint nach wie vor lethargisch: Schon in seinem ersten Fall „Eismond“ trauerte er um seine an Krebs verstorbene Frau Sanna und Jan Costin Wagner zieht dieses Motiv auch im aktuellen Roman durch. In Tagträumen und Erinnerungsfetzen erscheint dem traurigen Kommissar seine Frau immer wieder. Es ist ein belastendes, ein lähmendes Gedenken. Auch Timo Korvensuo plagen Erinnerungen: Er ist der Mittäter, der vor 33 Jahren regungslos der Ermordung von Pia zugesehen hat und dessen Gedanken im Wechsel mit der Perspektive von Joentaa geschildert weden. Korvensuo ist mittlerweile Familienvater und erfolgreicher Immobilienmakler. Gleichzeitig sammelt er aber auch Kinderpornos auf seinem Computer. Fernsehberichte über die verschwundene Sinikaa lassen in ihm die Bilder von früher wieder aufsteigen. Verzweifelt sucht er den eigentlichen Mörder auf, doch auch bei ihm findet er keinen Seelenfrieden. Schließlich spricht er mit der Mutter der ermordeten Pia und gerät so in eine raffiniert aufgebaute Falle, die der Ex-Kommissar Ketola zusammen mit Pias Mutter ersonnen hat.
Erstarrte Psychogramme
Das alles mag zunächst so klingen, als habe Jan Costin Wagner einen der gängigen Psycho-Thriller geschrieben. Davon ist das Buch jedoch genauso weit entfernt, wie von guter (Kriminal-)Literatur. „Das Schweigen“ ist ein hochgezüchtetes Kunstprodukt und zwar im negativen Sinne. Man mag zunächst begeistert sein, wie wohldurchdacht nicht nur der auf das Notwendigste reduzierte Plot gestrickt ist, sondern auch, wie in fast jedem einzelnen Satz eine gewisse Spannung liegt. Genau das entwickelt sich aber zu einem der Schwachpunkte des Romans. Nicht nur, dass ein solches Stilmittel auf Dauer ermüdet, Wagners Sätze erscheinen zudem derart rätselhaft und bedeutungsschwanger, dass man versucht ist, hinter jedem Punkt zu fragen, was uns der Autor damit wohl sagen wollte. Die Antwort ist klar: Hier wird große Literatur geschrieben, die sich mit den letzten Dingen beschäftigt. Dagegen gibt es keinen Einwand, doch Wagner produziert, ausgestattet mit überbordendem Ehrgeiz, ein großes, steriles Vakuum.
Stilistische Mittel wie innerer Monolog oder verknappte Dialoge werden von Wagner derart strapaziert, dass kaum Platz für Handlung und seinen Figuren nicht ein Hauch zum Atmen bleibt. Das ist vielleicht der größte Widerspruch des Romans: Trotz der Beschreibung von Gefühlen wie Angst oder Wut und der immer in Bruchstücken dargestellten Seelenlandschaften, erschafft der Autor blutleere Charaktere, zu Papier erstarrte Psychogramme, die jeglichen Bezug zur Wirklichkeit und echten Menschen verloren haben. Es sind Figuren, die vom Autor auf ihre Funktionalität eingeengt und reduziert wurden und keinen Freiraum lassen, weder sich selbst noch dem Leser.
Wagners Welt ist ein eiskalter Kunstkosmos, der alle Brücken zu realen Verbrechen, zu echten Tätern und Opfern abgebrochen hat. Die Grenzen zur fiktionalen Erhöhung, zur Verdichtung oder zur literarischen Zuspitzung hat Wagner weit hinter sich gelassen. So wie Figuren nur noch funktionieren, so ist die Methode dem Autor wichtiger, als das, was er mit ihr erzählen will. Daher ist es auch letztlich egal, ob es sich bei „Das Schweigen“ noch um einen Krimi handelt. Entscheidender ist die Frage, ob es sich überhaupt noch um Literatur handelt, oder ob es nur noch ein Zerrbild von Literatur ist, ein zur Sprachpose verkommenes Kunstprodukt. Ich denke, dass ich meine Antwort gefunden habe.
Jan Costin Wagner: Das Schweigen. – Berlin : Eichborn Berlin, 2007
ISBN-13: 978-3-8218-0757-7Link:
→ Die Homepage von Jan Costin WagnerBuch bestellen bei:
Kommentare
Himmel, was für eine leere Besprechung!
So, als wolle der Rezensent in einer Art Reflex einfach mal gegen all jene, die dieses Werk begeistert loben, von “Welt†bis “Süddeutscheâ€, von “hr†bis “ndrâ€, von “Brigitte†bis “Playboyâ€, vorgehen.
Argumente gibt’s keine – Zuspitzung mag der Meister dieser Zeilen nicht – ganz so, als ob Aussparung einen Text blutarm machte.
Tut sie nicht. Mit genau denselben Argumenten könnte man einen Porno, in dem man alles sieht bzw. liest, einer gut geschriebenen Liebesszene vorziehen. Um nicht in Banalitäten zu ersaufen, MUSS eben auch mal weggelassen werden.
Anders gesagt: Zur Hölle mit all jenen mittelmäßigen deutschen Krimiautoren, die uns Authentizität nur dadurch vermitteln können und wollen, indem sie uns sagen, welche Suppe der Kommissar am Mittag ißt – und wie dann am Abend die Farbe seiner Scheiße aussieht.
Lieber Herr Simader,
dass Sie als Literaturagent von Jan Costin Wagner meine Zeilen als „leer“ betrachten, ist verständlich.
Was die Lobeshymnen in den Zeitungen betrifft, bis auf die Besprechung in der „Süddeutschen“ waren mit andere Rezensionen beim Verfassen meiner Besprechung nicht bekannt. Welcher Reflex sollte da entstehen, zumal die Rezension in der „Süddeutschen“ in sich stimmig ist. Dennoch sehe ich den Roman von Jan Costin Wagner völlig anders als Christoph Bartmann.
Nichts gegen Auslassung, Verkürzung, Verdichtung eines Textes. Es geht auch nicht darum, wie bei „all jenen mittelmäßigen deutschen Krimiautoren“ Authenzität durch das Mittagsmahl oder die „Farbe seiner Scheiße“ zu vermittelt. Wobei: Wenn es der Lebendigkeit der Figur dient, gerne dem Text angemessen. Aber, wie ich oben schon geschrieben habe, sind die Charaktere bei Jan Costin Wagern derart auf ihre Funktion „Ich bin eine literarische Figur!“ beschränkt – Joentaa, der ewig trauernde Polizist, Korvensuo, der von Gewissensbissen geplagte Kinderschänder – dass sie nicht einen Deut überraschen, weil sie eben keine andere Facetten zu haben scheinen. Sie mögen es glauben oder nicht, dass Korvensuo am Ende stirbt, wurde mir als geübter Krimileser relativ früh bei der Lektüre klar. Ohne das überbewerten zu wollen, so etwas ist für mich als Leser ein erstes Anzeichen dafür, dass eine Geschichte reichlich vorhersehbar verläuft.
Worauf ich nicht wirklich eine Antwort bei der Lektüre fand: Warum wählt der Autor ausgerechnet das Kinderschänder-Motiv, das erstens innerhalb von Kriminalliteratur reichlich abgegriffen ist (und dem Wagner nicht ein neues Moment abgewinnen kann), zweitens moralisch – sofern man Kriminalliteratur auch als „moralische“ Literatur sehen will – kaum Spielraum für Interpretationen lässt. Das ist letztlich doch nur dem Knalleffekt am Ende geschuldet (der übrigens in der „Süddeutschen“ bis aufs Detail wunderbar ausgeplappert wurde und worüber ich mich als Literaturagent wesentlich mehr ärgern würde, als über eine argumentative Besprechung in einem Krimiblog.)
Ihr Vergleich „Porno vs. Liebesgeschichte“ ist undifferenziert. Es gibt schließlich auch die pornographische Liebesgeschichte oder den liebevollen Porno. Kunst entsteht doch nicht ausschließlich durch eine kunstvolle Sprache, oder, wie bei Wagner, durch einen gewollt kunstvollen Umgang mit ihr. Kunst hat auch immer einen Bezug zur Wirklichkeit des Lesers oder des Autors – ohne dabei zwingend Wirklichkeit ab- oder nachzubilden. Wichtig ist jedoch, dass ich als Leser Angriffspunkte in dem Werk finde – das können Figuren sein, die mich berühren, die mir sympathisch oder unsympathisch sind, dass können gelungene Dialoge sein, eine spannend gesetzte Dramaturgie, wunderbar formulierte Sätze, die sich einbrennen oder das kann auch ein spannendes, lebendiges Sprachexperiment sein. Wenn allerdings der Autor vor lauter Zwang zur Kunst vergisst, solche Angriffspunkte zu setzen, dann wird es schnell nur noch Kunst um der Kunst willen.
„Bin im Kino gewesen. Habe geweint“ – Kunst betrifft, berührt. Ich lache, ich weine, ich fühle mit. Bei Jan Costin Wagner fühle ich nichts.
Herzlichst,
Ludger
Was ist denn das für eine hirn- und sinnfreie Argumentation? Muss ich als Rezensent mitjubeln oder mitverreißen, nur weils alle anderen auch tun? Und das ausgerechnet bei einem Buch, das qualitätsmäßig „gegen den Strom“ zu schwimmen vorgibt (und vielleicht auch tut; ich habs nicht gelesen), aber bittschön hübsch mehrheitsmäßig besprochen werden soll.
bye
dpr
Leider nur eine Sammelantwort – wegen anderweitiger Verpflichtungen. Fakt ist, und das wissen alle, die im Literaturbetrieb zuhause sind: Wenn einer einen „Welterfolg“ hat, wie der „Playboy“ so lustig über „Eismond“ (dem Vorgänger von „Das Schweigen“) schrieb, dann werden die Säbel gewetzt. „Wir gehen mit einer bestimmten Haltung an ein Werk ran“, sagte mir mal ein Literaturchef einer Tageszeitung, „wenn FAZ, Süddeutsche, Zeit und Spiegel jubeln, dann hauen wir eben rein.“ Will heißen: Mit spitzen Fingern wird über das Papier geglitten – irgendwas wird sich schon finden, irgendwo kann man schon draufhauen, und wenn’s noch so schwer fällt. Das sind Binsenweisheiten, klar, aber an dieser Stelle müssen sie mal gesagt werden.
Ich mag’s nicht glauben, daß Ludger Menke nur die Kritik in der „Süddeutschen“ gelesen hat, zumindest das Zitat von Tobias Gohlis von der „Zeit“ kann ihm nicht entgangen sein, es ist schließlich auf dem Buchumschlag vermerkt. Aber wer sich in der Szene rumtreibt, dem kann die begeisterte Rezension von Hendrik Werner in der „Welt“, immerhin Juror der Krimi-Bestenliste, nicht verborgen geblieben sein – Ludger Menke schon gleich gar nicht, er verweist auf die Homepage des Autors. Und da steht ja fett dies Zitat.
Warum das so ist im Betrieb, das mag ich nur erahnen. Ich ahne, daß es schwer ist, Literaturkritiker zu sein – allzuoft wird man zum nützlichen Idioten der Branche herabgenudelt, zum Zitatenlieferanten. Kränkungen allenthalben – und wer gekränkt ist, will sich profilieren. Wenn es keine Argumente gibt, müssen eben Behauptungen herhalten. Nicht nur deswegen bin ich dem Christoph Bartmann von der „Süddeutschen“ auch gar nicht gram: Kurze Googelei ergab, daß er, der den Plot geplaudert hat, Leiter des Goethe-Instituts in Kopenhagen ist, also wahrscheinlich kein Professioneller im engeren Sinn. Einer der schreibt, was er denkt, was er empfindet – ja, so wünsch’ ich mir das.
Nur nebenbei: Kein Mensch würde sich über eine Rezension von einem der Werke Dostojewskis beschweren, nur weil in dieser der Plot erzählt wird – wenn ein Kriminalroman nicht wegen seiner Sprache, seiner Konstruktion und wasweißichsonstnochwas zu bestehen vermag, dann ist’s eben kein guter (Kriminal-)roman. Ich will Romane gerne zwei Mal lesen – Wegwerflektüre sind meine Sache nicht.
Schluß für heute. Schon 10:00, Büroalltag beginnt.
Alles sehr schön, mein Lieber, aber logisch ist das trotzdem nicht. Wenn tatsächlich „die Säbel gewetzt“ werden und „Eismond“ tatsächlich „ein Welterfolg“ war, dann hätte „Das Schweigen“ doch auf ganzer Front geschlachtet werden müssen, oder? Wurde es aber nicht. Dennoch schüren sie hier einen Generalverdacht und wenden ihn flugs auf Ludger Menke an, der meinetwegen alle „Schweigen“-Rezensionen auswendig daherbeten mag – es wäre immer noch kein hinreichender Grund, ihm ein solches paranoid stänkerisches Verhalten zu unterstellen, wie Sie es tun. Hätten alle anderen „Das Schweigen“ in den Orkus geschickt (oder, noch schlimmer: es titelangelehnt totgeschwiegen), nur der gute Ludger aber wäre gegen den Strom geschwommen und hätte das Buch gelobt – Sie kämen doch gar nicht mehr mit Elogen auf diesen einzigen würdigen Rezensenten nach.
Dass einige kluge Leute Wagners Buch mögen, bedeutet im übrigen nicht, dass Leute, die das Buch NICHT mögen, weniger klug sein müssen. Das ist eine der Eigenschaften von Literatur, die sie von wackligen Stühlen unterscheidet, bei denen der Interpretationsspielraum zugegeben sehr eng ist.
bye
dpr
Lieber Herr Simader,
der gute dpr hat ja schon das Entscheidende geschrieben. Nur noch eine Ergänzung von meiner Seite: Ein wenig schade finde ich es schon, dass Sie sich lieber ausführlich mit dem Alltagsfrust des Literaturbetrieb beschäftigen, als mit dem eigentlichen Gegenstand, den Roman von Jan Costin Wagner.
Wissen Sie, der Literaturbetrieb ist mir nicht egal, ich bin aber ein Außenstehender. Mir geht es bei meinen Besprechugnen um das Buch, dass ich gelesen habe. Ich muss weder davon leben noch habe ich irgend ein Prestige zu verlieren. Ich muss auch keine werbewirksamen Klappentexte für Verlage produzieren. Ich beschäftige mich mit Kriminalliteratur, weil mir das (meistens) Spaß macht. Also eher einer wie Christoph Bartmann. So einfach ist das und so nebensächlich ist das. Dies nur, weil Sie mir unterstellen, ich hätte nun schon alle Besprechungen gelesen und würde gegen irgendjemanden anschreiben.
Herzliche Grüße
Ludger
Lieber Herr Simader, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sie haben, was die Abgründe der Person Ludger Menke angeht, leider vollständig Recht. Der Mann kann einen spannenden Krimi nicht von einem Geschirrtuch unterscheiden. Ich bin total geschockt!
bye
dpr
[…] Platz: Jan Costin Wagner: Das Schweigen (Eichborn […]
[…] sehr unterschiedliche Rezensionen zu Das Schweigen von Jan Costin Wagner sind auf dem Krimiblog und bei der Krimilady zu lesen. Henny Hidden, die Krimilady, “verbeugt sich vor dem […]