Modernes Bauerntheater

vom Krimiblogger

Allmachtsdackel von Christine Lehmann
Christine Lehmann: Allmachtsdackel

„Notorisch Nerz oder Lisa und ihre Helden“ nennt Christine Lehmann eine → kleine Aufstellung der wichtigsten Figuren ihrer Krimireihe um die Journalistin und Amateuerschnüfflerin Lisa Nerz. Dieses Rollenverzeichnis, nachzulesen auf der → Homepage der Autorin, ist nicht nur amüsant zu lesen, es zeigt auch, wie wohldurchdacht Christine Lehmann ihre Figuren anlegt und entwickelt. Ein interessanter Einblick in die schriftstellerische Arbeit der schwäbischen Autorin, die nicht nur eine Meisterin der überspitzten Charakterzeichnung ist, sondern auch durch ihren eignen und eigenwilligen Sprachstil sowie durch ihre überzeugende und spannende Krimidramaturgie zu überzeugen weis. Ihr aktueller, sechster Fall für Lisa Nerz belegt dies einmal mehr.

Allmachtsdackel heißt der und wie die Autorin in einem → Interview erklärt, ist dies ein urschwäbisches Schimpfwort für einen Mann, der sich zu wichtig nimmt. Einer dieser Wichtigtuer hat gerade das Zeitliche gesegnet: Martinus Weber, Waagenbauingenieur und frommer Bürger des kleinen Ortes Balingen. Webers Sohn ist Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber, den Serienleser als Freund und Lebensgefährten von Lisa Nerz kennen. Beide reisen nach dem Tod des alten Mannes in das kleine, schwäbische Kaff. Während sich der Herr Oberstaatsanwalt um seine trauernde Mutter kümmert, wühlt Schwaben-Reporterin Lisa in der Vergangenheit ihres Freundes und seiner Familie. Dabei läuft ihr auch Barbara über den Weg, die Cousine von Richard. Sie schlägt sich und ihre große Familie als Bäuerin durch. Eine Herde wilder Kühe, sogenannte Archerinder und ein Hofladen mit Bioprodukten sorgen für das Auskommen. Das es Barbara mit den Öffnungszeiten und den Steuergesetzen nicht immer ganz so genau nimmt, ist nur eine kleine Schweinerei, die Lisa im Laufe ihrer Ermittlungen aufspürt.

Wesentlich ernsthafter und weitreichender sind ihre Recherchen zu den mysteriösen Unfällen in und um Balingen, denen in den letzten Jahrzehnten mehrere Jugendliche zum Opfer gefallen sind. In den siebziger Jahren starb ein Junge in einer Schneckenwelle, in den neunziger Jahren geriet ein Konfirmant in einen Hochleistungshäcksler und nun gibt es schon wieder einen Toten. Ein junger Mann, zertrampelt von Babaras Biorindern, die von fremder Hand unfreiwilligen Freilauf erhielten. Lisa geht den Unfällen auf den Grund und demaskiert nach und nach die ländliche und familiäre Idylle in dem Ort, in dem seit Jahrhunderten Waagen hergestellt werden, Symbol für die Gerechtigkeit. Unerbittlich kommt Lisa einer Maskerade aus Heuchelei, Homophobie und religiösen Allmachtsphantasien auf die Spur und stellt letztlich auch die Lebenswege der beiden Menschen in Frage, die sie eigentlich liebt: Barbara, in die sie sich kurz nach der Ankunft in Balingen Hals über Kopf verliebt hat und Richard, mit dem sie seit Jahren liiert ist. Insbesondere ihn treibt sie mit ihren Fragen derart in die Enge, dass er sich zu einem dramatischen Schritt am offenen Grabe seines Vaters gezwungen sieht.

Das Zeug zu Klassikern

Souverän führt Christine Lehmann ihre teils skurrilen, teils überzeichneten Figuren durch dieses tragisch-komische und moderne Bauerntheater. Meisterhaft inszeniert sie einen Krimi vom Lande, der jedoch nichts gemein hat mit der weitverbreiteten romantisierenden Heimatliteratur deutscher Krimiautoren. Zu dieser Meisterschaft tragen unter anderem ihre vielschichtig angelegten Charaktere bei. So ist Lisa Nerz keine glatt gebügelte Superschnüfflerin und Sympathieträgerin, sie ist durch ihre Unnachgiebigkeit, mit der sie zum Beispiel Richard in die Zange nimmt, ein unbequemes, nervendes und abschreckendes Miststück. Genau das braucht spannende Kriminalliteratur: Figuren, die bunt bis schrill schillern und die, wenn es sich um Seriencharaktere handelt, durchgängig glaubwürdig gestaltet sind. Christine Lehmann schafft es, ihre Lisa in mittlerweile sechs Romanen authentisch und interessant zu zeichnen, obwohl die Schwaben-Reporterin eine Kunstfigur bleibt und dies auch nicht verleugnet. Entscheidend ist hier die authentische Entwicklung, die Lisa und ihre Mitfiguren durchlaufen können.

Doch es sind nicht nur die Figuren, die Christine Lehmanns Krimis haushoch aus den Niederungen des trüben Allerlei der deutschen Kriminalliteratur hervorstehen lassen. Da sind ihre genau gesetzten Sprachspielereien – vom Feinstaub und Kohlendioxid hustenden Stuttgarter Kessel bis hin zu Balingen, das von Autostraßen mit Leitplanken stranguliert wird – die über bloße Wortwitz hinausreichen. Es sind wunderbar geformte Bilder aus der Wirklichkeit, literarischer Realismus verdichtet in wenigen Worten. Sie drücken so viel mehr aus als all die akribisch und langweilig nacherzählten Wahrheiten so mancher „realistischer“ Kriminalromane. Da ist ein geschickt verflochtener Plot, der zwischen Trauer und Komik pendelt, und der von der Autorin zu einem knallharten und packenden Ende geführt wird. Und schließlich sind da gut gesetzte Themen, wie etwa religiöser Wahn, die Lehmann klar und doch ohne moralischen Zeigefinger unterhaltsam in ihre Krimihandlung einfließen lässt. Fazit: Christine Lehmann schreibt ausgeklügelte, witzige und kunstvolle Krimis, die Klassikerqualitäten aufweisen.

Christine Lehmann: Allmachtsdackel. – Hamburg : Argument Verlag, 2007
ISBN 978-3-88619-899-3
(Ariadne Krimi; 1169)

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