Die Katalyse der Wirklichkeit

vom Krimiblogger

Vor den HymnenAlfred Hellmann: Vor den Hymnen

Nichts ist so wie es scheint. Für Alfred Hellmanns aktuellen Kriminalroman “Vor den Hymnen“ gilt dies im besonderen Maße. Schon die Eröffnungsszene des Buches ist eine eindringliche Illusion: Maskierte und bewaffnete Männer stehen vor dem Haus von Leonard Gantas im Berliner Stadtteil Grunewald und bereiten offenbar eine Erstürmung vor. Gantas, der sich im Haus aufhält, betreibt ein kleines Textilunternehmen und steht vor dem Ruin. Seine Frau ist tot, sein Sohn soll die angeschlagene Firma demnächst übernehmen und Gantas selbst steht im Verdacht, vor einigen Jahren ein Kaufhaus erpresst zu haben. Vor Gericht konnte ihm die Tat zwar nie nachgewiesen werden, doch Gantas hat immer noch einen Vorrat der Tabletten, mit denen er damals Johannisbeersaft einer bestimmten Marke vergiften wollte – oder vergiftet hat? Gantas selbst will jetzt die Konsequenzen ziehen und bereitet seinen Selbstmord vor. Dazu wird er allerdings nicht mehr kommen, denn einer der bewaffneten Männer erschießt ihn, als Gantas mit einem Telefon in der Hand vor die Haustür tritt. Was wie ein tödlicher Fehler beim Einsatz eines Sondereinsatzkommandos der Polizei aussieht, entpuppt sich schon bald als kaltblütig geplante Abrechnung.

Anhand einer packenden Ermittlung, bei der Täter und Hintermänner nach und nach überführt werden, unternimmt Alfred Hellmann spannende Abstecher in die bundesdeutsche Wirklichkeit. Seine Kommissare Viktor Land und Irina Heinrichs, die bei der Berliner Polizei mit der Aufklärung des Todes von Gantas beauftragt werden, entdecken bald, dass es offenbar jemand auf Kaufhaus- und Lebensmittelerpresser abgesehen hat. Wer in die Zeitungen schaut weiß, dass zum Beispiel Aldi, Lidl oder Rewe in den letzten Jahren mindestens einmal Opfer solcher Erpresser wurden. Reale Vorgänge, die Hellmann als Vorlage für ein durchaus beängstigendes Bild nimmt: Wie viele dieser Erpressungen werden wirklich publik? Schließlich kann eine Erpressung für einen Supermarkt oder einen Lebensmittelhersteller existenzbedrohend werden. Schweigen und Zahlen ist für die betroffenen Unternehmen oftmals die bessere Alternative. Und was, wenn es eine Versicherung gäbe, die Firmen gegen die finanziellen Folgen solcher Erpressungen absichern würde?

Dabei ist Epressung, so die Lesart von Hellmann, unter Kriminellen zu einer Art Volkssport geworden und entsprechend unterschiedlich sind auch die Täter, die der Autor in seinem Roman präsentiert: Eine verarmte Millionärin, deren Vermögen beim ersten Absturz der New Economy mit den Bach hinunter ging. Nun glaubt sie alles Recht der Welt zu haben, sich die verlorenen Millionen bei den großen Supermarktketten zurückzuholen. Oder der vorbestrafte, kleine Gauner, der die Globalisierung und ihre Folgen als Kriegserklärung an den einfachen Mann versteht und meint, sich mit versteckten Bomben in Milchtüten wehren zu müssen – mit tödlichen Folgen für ein kleines Mädchen. Da ist Leonard Gantas, der für seine angebliche Erpressung mit dem Tod bezahlt hat und noch eine ganze Reihe von weiteren Fällen in Dortmund, Hamburg und München. Ein Muster lässt sich erkennen, wonach offenbar mehrere Männer eines angeblichen SEK die mutmaßlichen Erpresser bedrohen. Doch kaum haben Land und Heinrichs dieses Muster erkannt und nehmen den den allglatten Versicherungsmanager Johann Widera ins Visier, dessen Firma Supermärkte und Lebensmittelhersteller gegen solche Erpressungsversuche finanziell absichert, wird ein dubioser Anwalt, der zu DDR-Zeiten ein Stasi-Spitzel war, ermordet. So recht will dieser Mord nicht ins Muster passen und den Kommissaren Land und Heinrichs wird klar, dass hier etwas gefährlich aus dem Ruder läuft. Nicht zuletzt eine Spur, die bis zu einem Staatssekretär im Innenministerium führt, sorgt für zusätzliche Brisanz.

Rückbesinnung auf klassische Elemente

Kunstvoll bricht Alfred Hellmann bundesdeutsche Wirklichkeit auf einen spannenden Kriminalfall herunter, der nicht nur glaubwürdig erzählt wird, sondern der auch durch eine ausgetüfftelte Dramaturgie zu überzeugen weiß. Hellmann setzt seine Figuren gekonnt in Szene, porträtiert sie kurz, aber eindringlich. So wird die einstige Sucht seines Kommissars Viktor Land zwar angerissen, dient aber lediglich zur genaueren Zeichnung des Charakters und wird glücklicherweise vom Autor nicht in die Breite gewälzt. Statt Dämonen der Vergangenheit setzt Hellmann auf humorvolle Dialogfetzen, zum Beispiel über die Qualen der Raucherentwöhnung. Seine Kommissare sind im klassischen Sinne endlich wieder das, was sie im Kriminalroman einst waren: Katalysatoren der Kriminalhandlung und nicht der Nabel der erzählten Welt. Gerade viele deutsche Autoren haben das in den letzten Jahren vergessen oder schlicht nicht begriffen.

Figuren, Dialoge, Dramaturgie – sie fügen sich bei Hellmann zu einem kompakten und klugen Stück Kriminalliteratur, das zudem durch eine lakonische Erzählweise glänzt. Stilistisch und sprachlich zeigt sich der Autor auf der Höhe der Zeit, gerade durch seine Rückbesinnung auf klassische, erzählerische Elemente des Kriminalromans. “Vor den Hymnen“ ist ein gelungener, deutscher Spannungs- und zugleich im besten Sinne auch ein Gesellschaftsroman. Ein Gesellschaftsroman, der ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, wie wir es etwa von so manchem “Soziokrimi“ kennen. Ein Gesellschaftsroman, der vielmehr auf die Wirkung von erzählter Wirklichkeit setzt, die dank eines gewitzten Erzählers spannend unterhält. Die aber auch beunruhigt, verunsichert und verstört. Denn nach der Lektüre von Hellmanns Roman wird man im Supermarkt genauer hinsehen, ob die Milchtüte oder der Joghurtplastikbecher vielleicht eine Einstichstelle aufweist. Schließlich ist nichts, wie es scheint.

Alfred Hellmann: Vor den Hymnen. – Köln : Emons, 2008
ISBN 978-3-89705-557-5
(Berlin Krimi)

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