Lügen, Lücken und Legenden

vom Krimiblogger

Sherlock Holmes Die unautorisierte BiografieNick Rennison: Sherlock Holmes – Die unautorisierte Biographie

Schirmmütze, Pfeife und eine markante Hakennase sind die wichtigsten Erkennungszeichen des vermutlich berühmtesten Detektiv der Welt, Sherlock Holmes. Diese Äußerlichkeiten verraten nur wenig über den Mann, der zusammen mit seinem Freund Dr. John H. Watson in der Baker Street 221b gelebt haben soll. Er war ein Meister der Deduktion, er liebte Musik und hatte ein Drogenproblem – es ist nicht viel, was wir über diesen Mann des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wissen. Wann wurde er geboren, wie ist er erzogen worden und wie verbrachte er seine letzten Lebensjahre? Diese und viele Fragen mehr klärt der Brite Nick Rennison in seiner jetzt auf Deutsch erschienen „unautorisierten„ Biografie über den Meisterdetektiv und liefert zugleich ein Portrait über die viktorianische und edwardianische Zeit.

Allerdings setzt Rennison zweierlei voraus – und diese Prämissen sind unumstößlich: Sherlock Holmes hat wirklich gelebt und seine Fälle stammen nicht aus der Feder jenes Arthur Conan Doyle, den alle Welt für den „Erfinder“ von Holmes hält, sondern Holmes treuer Helfer Dr. Watson hat die Erlebnisse für die Nachwelt festgehalten. Doyle, so die Lesart bei Rennison, war lediglich der Literaturagent, der Watson bei der Vermittlung seiner Erzählungen und Romane an die Verlage behilflich war. Schon dieser amüsante Seitenhieb auf Doyle, der bekanntlich den Detektiv schon recht früh lieber tot als lebendig gesehen hätte, deutet die Richtung an, in die Rennisons lesenswerte Biografie geht: Augenzwinkernd und doch mit dem gebotenen Ernst zeichnet er das Leben der Ikone aller Detektive nach.

Ausgehend von den 56 Kurzgeschichten und vier Romanen, die Watson über seinen Freund veröffentlicht hat, schreibt Rennison dem Detektiv ein Leben. Dass Watson nicht immer die Wahrheit über Holmes niedergeschrieben hat, dass er manchmal irrt oder sogar bewusst täuscht oder verschleiert, beweist Biograf Rennison ebenso pfiffig, wie er Lücken füllt. Neben dem Kanon der Sherlockianer nutzt er eine Vielzahl von Quellen, die Auskunft über die Gesellschaft und Politik, über die Kultur und Kriminalgeschichte der Holmes-Zeit geben können.

Allzweckwaffe des britischen Weltreichs

Geboren wurde William Sherlock Holmes demnach am 17. Juni 1854 in einem kleinen Dorf in Yorkshire als Nachfahre von Landjunkern. Während sein älterer Bruder Mycroft an Privatschulen erzogen wurde, wuchs der „schwierige Sprößling„ Sherlock vor allem im heimatlichen Yorkshire auf und erhielt Privatunterricht. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für Sport (Fechten und Boxen), für Musik und für das Theater. Vor allem aber erkannte der junge Sherlock seine außerordentliche Fähigkeit zum rationalen und logischem Denken. Folgerichtig beginnt er Naturwissenschaften in Cambridge zu studieren, unternimmt einen ersten Abstecher nach London, um dort seiner Begeisterung für das Theater zu frönen, kehrt nach Cambridge zurück, um schließlich sein Studium vollends abzubrechen und ab 1878 in London als einziger beratender Detektiv tätig zu werden.

Seinem Bruder Mycroft, der als politischer Berater die Strippen hinter den Kulissen der britischen Weltmacht zieht, hat Holmes die wichtigsten Fälle in seiner Ermittlerkarriere zu verdanken. Ob peinliche Skandale am Königshaus, spektakuläre Kriminalfälle wie „Jack the Ripper“ oder der Kampf gegen irische Nationalisten – Sherlock Holmes wird durch seinen scharfen Intellekt zu einer Allzweckwaffe der britischen Monarchie. In dieses Bild passt auch, dass Professor Moriarty, der größte Gegenspieler von Holmes, eigentlich Ire gewesen sein soll und irische Nationalisten unterstützt hat. Der vermeintlich gemeinsame Tod von Holmes und Moriarty am Reichenbachfall war nichts anderes als ein geschickt eingefädeltes Täuschungsmanöver, um einerseits Professor Moriarty zu beseitigen, andererseits ermöglichte es der Vorfall, dem mittlerweile berühmten Detektiv klammheimlich unterzutauchen.

Denn während der Jahre, in denen Sherlock Holmes verschwunden war – bei den Sherlockianern als „Great Hiatus“ bekannt – verbrachte er unter falscher Identität und im Dienste seiner Majestät in Tibet, Persien und dem Sudan, um dort als Geheimagent den russischen Einfluss zurück zu drängen und in Geiselhaft sitzende Engländer aus den Klauen der jeweiligen Herrscher zu befreien. Kein leichtes Unterfangen, denn jeder Europäer wäre damals ein ungebetener Gast in den Ländern gewesen. Aber das Genie Holmes war eben auch ein Meister der Maskerade. Rennison füllt diese „große Lücke“ in der Biografie des Detektivs mit einer phantasievollen, dennoch eng an die damaligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse angelehnten Episode, die in sich stimmig und überzeugend ist.

Das Rätsel der Schirmmütze

Ein Urteil, das auf die gesamte Lebensgeschichte zutrifft: Rennison verwebt auf unterhaltsame Weise Fakten und Fiktion, lässt Sherlock Holmes mit den Geistesgrößen seiner Zeit, von Oscar Wilde bis Marie Curie, zusammentreffen und entwirft ein lebendiges Bild des Superheldens, der weit über das ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Köpfen der Leser nachwirkt. Rennison spart auch die Schattenseiten des großen Detektivs nicht aus: Den Gründen für seine Gefühlskälte, seiner Arroganz und seiner Misogynie geht er ebenso auf den Grund wie der Frage, ob Holmes vielleicht homosexuell gewesen sein könnte. Geschickt spielt der Biograf mit den Legenden, die sich um Sherlock Holmes ranken und die mit viel Liebe von seinen Fans gepflegt werden.

Bis hin zu Sherlock Holmes einsamen Tod im Jahre 1929 entwirft Nick Rennison ein ideenreiches und exakt recherchiertes Portrait, das mit einer gelungen Mischung aus historischen Fakten, kritischem Blick und liebevoller Bewunderung zu überzeugen weis. Entscheidender aber ist vielleicht, dass Rennisons Biografie deutlich macht, woraus Superhelden auch geschnitzt sind: Aus Lücken, die den Lesern genügend Freiraum für eigene Interpretationen und Deutungen lassen. Das zeigt zum Beispiel die bekannte Schirmmütze, die zum Markenzeichen des Detektivs geworden ist: Solche Mützen hat der echte Sherlock Holmes nie getragen.

Nick Rennison: Sherlock Holmes : Die unautorisierte Biographie / Aus dem Englischen übersetzt von Frank Rainer Scheck und Erik Hauser. – Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2007
ISBN-10: 3-538-07246-9
ISBN-13: 978-3-538-07246-6

Originalausgabe: Nick Rennison: Sherlock Holmes : The Unauthorized Biography. – London : Atlantic Books, 2005

Buch bestellen bei:
» amazon.de » libri.de » buch24.de