Kafka und die Macht der Einbildungskraft

vom Krimiblogger

Pablo De Santis Die sechste LaternePablo De Santis: Die sechste Laterne

Es war der argentinische Dichter Jorge Luis Borges, der die Literatur der „vernunftgerechten Phantasie“ der Literatur des „psychologischen Realismus“ gegenüberstellte. Im Vorwort zu dem 1940 erschienen Roman „La invención de Morel“ (dt.: „Morels Erfindung“) seines Freundes Adolfo Bioy Casares stellte Borges fest, das die Erstere als Kunstprodukt strengeren Formgesetzen unterworfen sei als die zur Formlosigkeit neigende „Umschreibung der Realität“. Die aktuelle Diskussion um „dicke Krimis“ erscheint wie ein fernes Echo auf diese Unterscheidung: Realistische Krimis im Großklotzformat verstopfen die Regale in Buchhandlungen und so manches Leserhirn. Ausnahmen gibt es und eine dieser Ausnahmen ist Pablo De Santis, der, wie seine beiden Vorstreiter Borges und Bioy Casares, aus Argentinien stammt. Mit seinem aktuellen Roman „Die sechste Laterne“ beweist der 1963 in Buenos Aires geborene Autor einmal mehr, wie wunderbar präzise, dicht und phantasievoll Kriminalliteratur auf noch nicht einmal 300 Seiten sein kann und dabei wesentlich mehr zu erzählen hat als so mancher 600-Seiten-Schmöker.

„Die sechste Laterne“ ist auf den ersten Blick zunächst nichts anderes als eine Biografie. Im Mittelpunkt steht der italienische Architekt Silvio Balestri, dessen kuriosen Lebensweg De Santis nachzeichnet. 1889 in Rom als Sohn eines Bildhauers und Grabsteinmetz geboren, bewundert der junge Silvio die Arbeit seines Vaters und arbeitet sich vom Denkmalschützer langsam zum Architekten nach oben. Da seine berufliche Zukunft in Italien begrenzt ist, wandert er, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach New York aus. Auf der Überfahrt lernt er seine künftige Frau Greta kennen und heiratet sie schließlich in seiner neuen Heimat.

Beruflich sieht es allerdings nicht so gut aus. Kaum in New York angekommen, muss sich Balestri zunächst als Kellner durchschlagen, bevor er endlich eine Anstellung als Kopist bei dem wichtigen Architekturbüro „Moran, Morley & Mactran“ erhält. Gleichzeitig lernt er den geheimnisvollen Caylus kennen, der ein Museum für vergessene Dinge und Ideen betreibt. Balestri macht schon bald als Vortragsreisender von sich reden, wettert er doch gegen die Seelen- und Bedeutungslosigkeit moderner Architektur, wie sie sich auch in den Wolkenkratzern der amerikanischen Metropole widerspiegelt.

Phantasie, begraben unter Papierbergen

Als Architekt vermag sich Balestri allerdings nicht durchzusetzen. Alle seine Pläne bleiben Papier und wären in Caylus’ seltsamen Museum besser aufgehoben. Kein einziger Entwurf des Italieners wird in die Wirklichkeit umgesetzt, auch nicht sein ehrgeizigstes Projekt „Zikkurat“ – ein neuer Turm zu Babel. Statt dessen bekommt er den Auftrag, innerhalb des Architekturbüros eine undichte Stelle zu finden. Geheime Pläne und neue Ideen aus dem eigenen Hause werden der Konkurrenz zu gespielt und Balestri soll den Verräter finden. Dazu rückt er nicht nur in die obersten Etagen des Architekturbüros auf, er kommt auch dem Geheimbund der „sechsten Laterne“ auf die Spur.

Was zunächst wie ein Spionageroman klingt, entpuppt sich schon auf den ersten Seiten als raffiniertes Spiel mit Literatur. So lässt De Santis am Anfang des Roman den jungen Balestri eine Freundschaft mit einem Mann namens Oskar Pollak schließen. Oskar Pollak – Kafka-Kenner werden es wissen – war einer der Jugendfreunde des Prager Autors, arbeitete als Kunsthistoriker, meldete sich freiwillig für den Kriegsdienst und starb 1915 an der österreichisch-italienischen Front. Nahezu gleichartig verläuft die Lebensgeschichte des Oskar Pollaks, den sich Pablo De Santis ausgedacht hat – nicht der einzige Bezug zum Leben und Werk Franz Kafkas.

So erinnert jenes streng hierarchisch aufgebaute Architekturbüro, in dem sich Balestri vom Keller bis zu den obersten Stockwerken hocharbeitet, an die unendlichen Gänge und Labyrinthe in Kafkas Romanen „Das Schloss“ oder „Der Process“. Auch die Freundschaft von Balestri zu Caylus, dem Besitzer eines Museums, in dem gescheiterte und vergessene Ideen gesammelt und aufbewahrt werden, zeigt Parallelen zur Freundschaft zwischen Kafka und Max Brod, der ja bekanntlich das literarische Werk seines Freundes aufbewahrte und für die Nachwelt rettete. Das Balestris Architekturpläne zu Lebzeiten nie umgesetzt wurden, erinnert wiederum daran, dass auch Franz Kafka zu Lebzeiten kaum ein literarischer Erfolg vergönnt gewesen war, abgesehen von einigen kleineren Publikationen.

Doch „Die sechste Laterne“ ist nicht nur eine wunderbar schräge Hommage an den Prager Dichter und sein Leben, das Buch erweitert auch den Begriff des Kriminalromans oder – genauer gesagt – führt ihn auf elegante und sehr kluge Weise zu seinen fast vergessenen Ursprüngen zurück. Die liegen nämlich unter anderem auch in der „vernunftgerechten Phantasie“, die von ungeheuerlichen, unerhörten und unwahrscheinlichen Begebenheiten zu berichten weiß und die, von einem intelligenten Autor in strenge Form gegossen, den Leser überzeugen und ihn in ihren Bann ziehen können. Pablo De Santis ist so ein intelligenter Autor, der zugleich einen Aspekt zu Tage fördert, der unter den Papierbergen von angeblich realistischer Kriminalliteratur fast vergraben und vergessen wurde: die Macht und Magie der Einbildungskraft.

Pablo De Santis: Die sechste Laterne / Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke. – Zürich : Unionsverlag, 2007
ISBN 978-3-293-00372-9

Originalausgabe: Pablo De Santis: La sexta lámpara. – Buenos Aires : Seix Barral, 2005

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