
Kate Summerscale: Der Verdacht des Mr. Whicher oder Der Mord von Road Hill House
Hinweis: Diese Besprechung enthält Spoiler.
Die Kriminalliteratur entdeckt ihre Wurzeln. Neuauflagen von mehr oder weniger wichtigen Klassikern in verschiedenen Verlagsreihen, umfangreiche Bibliographien zum Genre oder literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den zahlreichen Anfängen der Kriminalliteratur – Forscher, Archäologen und Historiker sind verstärkt unterwegs, um im Staub der Jahrhunderte zu wühlen und der kriminalliterarischen Vergangenheit ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Dazu gehört selbstverständlich auch die Erkundung der mittelbaren und unmittelbaren Vorfahren des “Kriminalromans“ – was man auch immer heute unter dem Begriff verstehen mag. Der englische Sensationsroman, dessen Geburt man gemeinhin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert, ist einer dieser Vorgänger. Ein ungeliebter Ahne, denn er ist ein Kind der Straße, der Gosse. Oft in Fortsetzungen erschienen, zeichnen sich Sensationsromane unter anderem durch die für damalige Verhältnisse drastische Schilderung von spektakulären Ereignissen – wie eben einem Mord – aus. Ihre wachsende Popularität ist eng mit der Entwicklung von billigen Zeitungen wie auch mit der zunehmenden Alphabetisierung von Arbeitern, Bauern und Dienstboten verknüpft. Wie wichtig dieses Sensationsromane für die Entwicklung der Kriminalliteratur waren, zeigt auch das Buch “Der Verdacht des Mr. Whicher“ der britischen Autorin Kate Summerscale. Hierzulande ist das Sachbuch, eine Mischung aus kriminalistischer, historischer und literarischer Studie, von der Kritik so gut wie gar nicht wahrgenommen worden, in England hingegen wurde es mit einem Preis der BBC bedacht. Summerscale zeichnet in ihrem Buch ein grausames Verbrechen nach und setzt es in einen soziologisch-historischen und literaturhistorischen Kontext. Anhand eines Mordes stellt sie die Bedeutung des Genres des Sensationsroman dar und richtet ihren Blick auf die wechselseitige Beeinflussung von fiktiver Literatur und der “journalistischen“ Beschreibung von Kriminalität.
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