Schwarzer Glanz
vom Krimiblogger
Stefan Kiesbye: Nebenan ein Mädchen
Im ersten Moment erinnert sie schon an Stephen King, die Novelle “Nebenan ein Mädchen“ von Stefan Kiesbye, die 2004 bereits in englischer Sprache veröffentlicht wurde, jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt und es auch gleich auf die → KrimiWelt-Bestenliste für Januar 2009 geschafft hat. “Stand by me – Geheimnis eines Sommers“ heißt die Verfilmung von Kings Erzählung “Die Leiche“, in der die Geschichte einer Jungenbande erzählt wird, die sich auf die Suche nach einer Leiche macht. Die Jugendbande in Kiesbyes Novelle – von einem Roman kann man schwerlich sprechen – nennt sich “Dachse“ und liefert sich mit den Konkurrenten der “Füchse“ einen erbitterten und brutalen Wettkampf im Mief einer deutschen Kleinstadt. Ein Kampf, der am Ende für einen der Jugendlichen tödlich endet.
Die Geschichte, die in einem Frühsommer Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre in einer norddeutschen Kleinstadt spielt, wird aus der Perspektive von Moritz, einem Bandenmitglied der “Dachse“ erzählt. Mit seinen Freunden Thomas, Johannes, Dieter und Ralf streunt er durch die Gegend, die geprägt ist von einer Süßwarenfabrik, einem Schlachthof, einem Schrottplatz sowie Wäldern und Wiesen mit alten Bunkern. Die Jungen stehen mitten in der Pubertät – entsprechend durchzieht die Erzählung eine dumpfe, derbe Sexualität, das Interesse an Mädchen, “Fanny Hill“ und “schwedische Liebesgeschichten“ ist genauso stark, wie die Neugier auf das Geheimnis eines alten Bunkers. Voller Misstrauen und Abscheu begegnen die Heranwachsenden der Welt der Erwachsenen, die sie genau beobachten und deren kleinen und großen Geheimnisse sie aufspüren. Sexuelle Verhältnisse der Erwachsenen untereinander bleiben nicht unentdeckt, Nachbarn werden beim Sex beobachtet und selbst Inzest und ödipale Erlebnisse gehören zur Welt des jungen Moritz.
Im Gegensatz zu King erzählt Kiesbye jedoch kein melancholisches Jugendabenteuer, seine Erzählung über den Sommer eines Jugendlichen ist eine erschreckendes Porträt über die Grausamkeiten der Adoleszenz. Einzig die aufkeimende Liebe von Moritz zu Anna verleiht der Novelle ein wenig Helligkeit. Genau diese Liebe ist es aber, die zum tödlichen Ausgang des Dramas und zur Flucht von Moritz führt. Kiesbye setzt durchaus auf Elemente des alltäglichen Horrors, wie etwa eine unentdeckte Leiche sowie ein jahrelang versteckt gehaltenes Mädchen, das geistig zurück geblieben ist, doch geht es ihm nicht um den Schockeffekt. Seine lakonisch erzählte Geschichte demaskiert die romantische Vorstellung vom Heranwachsen und dem süßen Vogel Jugend. Pubertät ist bei Kiesbye ein grausamer, schmerzhafter Prozess der Erkenntnis und der Wandlung. Entsprechend schreibt der Autor in knappen, nüchternen Sätzen im Präsens, wodurch die Wucht, die Unmittelbarkeit seiner kurzen Sätze noch verstärkt wird.
Stilistisches Talent
Das ist intensiv und handwerklich perfekt verfasst – mit Kriminalliteratur hat die Novelle aber nur wenig zu tun. Das Geheimnis, dass hier zufällig (!) von den Jugendlichen aufgedeckt wird, hat innerhalb der Erzählung keine Spannungsfunktion, die Grausamkeiten dienen keiner erzählerischen Dramaturgie, sie sind einfach Beschreibungen des Lebens der Figuren. Noch weniger geht es hier um die Aufklärung eines Verbrechens, der Mord geschieht nämlich erst am Ende. Das für Kriminalliteratur oft typische rückwärts gewandte Erzählen (von der Gegenwart in die Vergangenheit) findet bei Kiesbye nicht statt, der chronologisch die Ereignisse schildert.
Das Etikett “Kriminalliteratur“ will hier – bei aller Vorsicht im Umgang mit der Benennung von Romane oder Novellen – nicht so ganz passen. Das sollte aber niemanden davon abhalten, dieses intensive und grandios geschriebene Stück Literatur zu lesen. Kiesbye zeigt sich als ein stilistisch talentierter Autor, der das ökonomische Erzählen, das Einfangen von Stimmungen mit wenigen Worten hervorragend und vortrefflich beherrscht. Ein schwarz glänzender Text mit einem existenziellen Grundtenor, der jenseits der Etiketten von “Krimi“ und “Noir“ angesiedelt ist, und der auf 110 Seiten mehr erzählt also so mancher 500-Seiten-Schmöker.
Stefan Kiesbye: Nebenan ein Mädchen. – Frankfurt am Main : Jens Seeling Verlag, 2008
ISBN 978-3-938973-09-7Englische Ausgabe: Stefan Kiesbye : Next door lived a girl. – New York : Low Fidelity Press, 2004
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Kommentare
[…] 3. Stefan Kiesbye: Nebenan ein Mädchen (Vormonat Rang 5) Wedersen, Niedersachsen: „Sollten sie jemals die Leiche finden, wird es zu spät für Fingerabdrücke sein. Wahrscheinlich wird sie ungestört ruhen, während wir anderen erwachsen werden.“ So endet der letzte Sommer einer Jungenbande. Phänomenales Debüt, starker Text. […]
[…] Verlag. ++ Mehr über den Autor auf seiner Homepage. ++ Besprechungen von Ulrich Noller sowie Ludger Menke. ++ Voll des Lobes: Das Buch wurde ausgewählt für die KrimiWelt-Bestenliste Januar 2009. […]