Irischer Trauergesang

vom Krimiblogger

Blue Tango - deutsche TB-AusgabeEoin McNamee : Blue Tango

Einer der größten Justizskandale der Nachkriegszeit in Nordirland: Im März 1953 wurde der damals 20-jährige schottische Soldat Iain Hay Gordon von einem Belfaster Gericht auf unbestimmte Zeit in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Gordon die 19-jährige Patricia Curran am Abend des 12. Novembers 1952 mit 37 Messerstichen vor dem Haus ihrer Eltern ermordet hatte. In seinem Tatsachenroman „The Blue Tango“ (dt. „Blue Tango“) rollt der irische Autor Eoin McNamee diesen Fall neu auf und spekuliert auf eindringliche Weise darüber, wo der wahre Täter zu suchen gewesen wäre.

Das Gericht hielt damals den Angeklagten Gordon wegen Geisteskrankheit für nicht schuldfähig. Er wurde in die Psychatrie eingewiesen. Sieben Jahre verbrachte er dort, bevor er – mit neuem Namen – entlassen wurde. Gordon hatte während der Ermittlungen ein Geständnis abgelegt. Ein Geständnis, das sich viele Jahre später als falsch herausstellte. 50 Jahre lebte Gordon mit dem Makel, ein geisteskranker Mörder zu sein. Erst im Dezember 2000 sprach ihn das Nordirische Berufungsgericht von diesem Vorwurf frei.

Rückblick: In der Nacht vom 12. auf den 13. Novembers 1952 fand Desmond Curran die Leiche seiner Schwester Patricia auf dem Grundstück seiner Eltern. Sowohl Desmond wie auch Patricia lebten zu dem Zeitpunkt des Mordes noch auf dem elterlichen Anwesen „The Glen“. Ihre Eltern, der angesehene Richter und Generalstaatsanwalt Lancelot Curran und seine Frau Doris, sollen zur angeblichen Tatzeit nicht im Hause gewesen sein. Schon bei der Entdeckung der Leiche ergaben sich Unregelmäßigkeiten. So rief der Richter gegen 1.45 Uhr bei der Polizei an, um seine Tochter als vermisst zu melden. Nur fünf Minuten später meldete sich die Mutter telefonisch bei der Polizei, um aufgeregt mitzuteilen, dass etwas Schreckliches passiert sei. Ein Polizist traf kurz nach 2 Uhr bei der Familie ein, wo der Bruder Desmond mittlerweile die Leiche entdeckt hatte.

Halb Dokumentation – halb Fiktion

Gegen 2.20 Uhr fuhren der Richter, sein Sohn und der Familienanwalt Malcolm Davidson die Leiche zu einem Arzt, ohne eine polizeiliche Untersuchung des Fundorts der Leiche abzuwarten. Spätere Nachforschungen ergaben, dass am Fundort der Leiche nur wenig Blut zu finden war. Außerdem entdeckte man die Bücher, die Patricia angeblich bei sich getragen haben soll, etwa 9 Meter von ihrer Leiche entfernt. Da die Tat zwischen 17 und 19 Uhr begangen worden sein soll und es in dieser Nacht geregnet hatte, müssten folglich die Bücher durchnässt gewesen sein. Sie waren aber trocken. All dies spricht dafür, das der Fundort nicht der Tatort war. Auch der von der Polizei festgelegte Tatzeitpunkt wurde nie in Frage gestellt. Nur einige der Merkwürdigkeiten, die Eoin McNamee in seinem Roman ans Licht bringt.

Der Autor rückt die Familie des Opfers ins Zentrum seines Romans. Der ehrwürdige Richter Lancelot Curran, der durch seine Spielsucht hoch verschuldet ist. Sein Sohn Desmond, ein Anwalt und religöser Fanatiker, der den angeblichen Täter Iain Hay Gordon mit der Familie bekannt gemacht hat. Schließlich die Mutter Doris, unterdrückt von ihrem herrschsüchtigen Mann und in Depressionen verfallen. Alle drei hätten, so deutet es McNamee an, Motive für einen Mord an Patricia gehabt. Galt das junge Mädchen doch als flatterhaft, verkehrte mit den falschen Männern und stand im Ruf, eine Nymphomanin zu sein.

Der familiäre Hintergrund wird aber während der offiziellen Untersuchung verschwiegen. Statt dessen wird getuschelt und gemauschelt. Die obersten Ermittlungsbeamten geben Anweisung, die Familie aus den Untersuchungen heraus zu halten. McNamee erzählt dies mit einer Mischung aus dokumentarischen und fiktionalen Stil. Detailliert führt der Daten und Uhrzeiten auf, nennt die wirklichen Namen der beteiligten Personen und wechselt dann in die Sichtweise der Opfer – Patricia Curran und Iain Hay Gordon. Eng verwebt er Vor- und Rückblenden, erzählt nicht chronologisch, baut so eine fesselnde Erzählung auf, die dem Leser Platz für Spekulationen lässt. Der wahre Täter wurde bis heute nicht ermittelt.

Die Suche nach dem Sündenbock

Blue Tango - englische TB-Ausgabe Gleichzeitig liefert er ein anschauliches Bild der nordirischen Gesellschaft unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Mief, Biederkeit, sexuelle Unterdrückung, Klassendenken, der Haß auf Minderheiten, all dies wird durch McNamees prägnant erzählte Geschichte lebendig. Die Polizei muss einen Schuldigen außerhalb der Familie finden – ob nun ein geisteskranker Landstreicher, ein verhasster polnischer Soldat, oder ein Perverser, wie es der homosexuelle Iain Hay Gordon angeblich ist.

Eoin McNamee, der bereits durch seinen dokumentarischen Roman „Resurrection man“ (dt.: „Belfaster Auferstehung“) über die Geschichte der Shankill Butchers in Irland für Aufsehen gesorgt hat, entwirft mit seinem spannenden und gleichzeitig elegischen Buch ein bedrückendes Tableau über die Manipulation der Justiz, die Mechanismen der Macht und die Verwundbarkeit von Menschen, die an das Gute glauben. Sehr aktuell und sehr lesenswert!

Eoin McNamee: Blue Tango : Roman / Aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib. – Berlin : Berliner Taschenbuch Verlag, 2005
ISBN 3-8333-0020-5

dt. Originalausgabe: Eoin McNamee: Blue Tango : Roman / Aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib. – München : Beck, 2003
ISBN 3-406-50263-6

englische Originalausgabe: Eoin McNamee: The Blue Tango. – London : Faber & Faber, 2001

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Links zum Thema
→ Sammlung von englischen Zeitungsartikeln zum Fall Iain Hay Gordon
→ Bericht von BBC News zum „Freispruch“ von Iain Hay Gordon, mit Fotos von Iain Hay Gordon und Patricia Curran