Unerhörte Gebete

vom Krimiblogger

David Peace 1977
David Peace: 1977

» Jeder, der damals in Yorkshire aufwuchs, hat seine eigene Yorkshire Ripper Geschichte zu erzählen.« – David Peace

David Peace ist ein Autor mit hohen Ansprüchen. » White Jazz von James Ellroy ist vielleicht der beste Kriminalroman, der geschrieben wurde. Vielleicht. Es war das Buch, das ich immer schlagen wollte.« sagt Peace im Interview. Sein „Red Riding Quartet“, dessen realer Hintergrund die Jahre des Yorkshire Rippers sind, der zwischen 1975 und 1980 mindestens 13 Frauen ermordete, stellt sich diesen Ansprüchen und erfüllt sie auf eigene Art und Weise. Ob Peace Ellroy „geschlagen“ hat, soll dahin gestellt bleiben. Offensichtlich aber ist der Einfluss von Ellroy auf die Stakkato-Prosa des David Peace. Wechsel der Erzählperspektiven, ein rhythmischer und verkürzter Erzählstil, die das Grauen, die Brutalität und die Hysterie greifbar machen, finden sich sowohl in „White Jazz“ und Ellroys „L.A. Quartet“ wie auch im „Red Riding Quartet“, dessen zweiter Band „1977″ kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Schon im ersten Band des „Red Riding Quartets“, „1974″, treibt David Peace seine Handlung durch einen stakkatoartigen Stil voran, der Nachfolgeband „1977″ ist noch komprimierter, dichter und in seinen erzählerischen Mitteln radikaler. Mit den gängigen Werkzeugen der Kriminalliteratur hat dies nichts zu tun. Wo viele Autoren vor allem auf den Fortgang der Handlung setzen, zum Beispiel durch Aktion, durch Ortswechsel oder durch Cliffhanger, die das nächste Ereignis im Roman rätselhaft andeuten, sie also vor allem „plot driven“ schreiben, reduziert David Peace seine Geschichten weitgehend auf ausgefeilte Innenansichten seiner Figuren, allerdings ohne zu psychologisieren. So auch in „1977″. Der Roman wird aus zwei subjektiven Perspektiven erzählt, ebenfalls eine Reminiszenz an Ellroy.

Passionsspiel mit umgekehrten Vorzeichen

David Peace copyright protected Zum einen ist da der Polizist Robert Fraser, der zur der Sonderkommission abgestellt wurde, welche die Morde an den Prostituierten in Yorkshire aufklären soll. Zum anderen der Journalist Jack Whitehead, der als Gerichtsreporter der „Evening Post“ die Ermittlungen der Polizei verfolgt. Beide Männer sind Getriebene und Gefangene ihrer Obsessionen. Beide haben oder hatten ein Verhältnis zu Prostituierten, beide sind moderne Satyren, verstrickt in einem Geflecht aus Macht und Missbrauch, Lust und Leiden, beide sind Opfer und Täter zugleich. Beide wollen den Yorkshire Ripper stellen, hoffen dadurch auf Erlösung, scheitern aber letztlich an ihrem gespaltenen, schizophrenen Leben, in dem die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht mehr existieren. Die Jagd nach dem Ripper beginnt als Heilssuche und entpuppt sich als ihre persönliche Nemesis.

David Peace hat mit Leidenschaft und Wut im Bauch ein Passionsspiel mit umgekehrten Vorzeichen geschrieben. Gott ist abwesend, der Ripper, als alles beherrschender Satan, lässt seine Häscher – Polizisten, Journalisten oder ganz „normale“ Bürger – durch ihre eigenen Sünden in den Höllenschlund stürzen. Schilderungen von brutalen Vergewaltigungen erscheinen wie Opferrituale für den Teufel, die gewalttätige Erniedrigung und Folter von Verdächtigen durch Polizisten schildert Peace wie ein mittelalterliches Inquisitionsgericht. Es ist die Hölle auf Erden, aus der es für keinen der Beteiligten ein Entkommen gibt. » Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, sie werden begehren zu sterben, und der Tod wird von ihnen fliehen. « Dieses Bibelzitat liest Jack Whitehead und er weiß, dass auch ihm der Tod keine Erlösung bringen wird.

Rotkäppchen im roten Bezirk

David Peace lies aus 1977, copyright protectedDurch eine brillant eingesetzte Montagetechnik erreicht David Peace dabei eine beeindruckende Dichte und Mehrdeutigkeit: Bibelzitate stehen neben beschriebener Pornographie, die subjektive Erzählung der beiden Hauptcharaktere wird rhythmisch durch Ausschnitte aus einer Call-in-Radiosendung zynisch kommentiert, Fraser und Whitehead stoßen unerhörte Gebete zum Himmel. In diesem groß angelegten Passisonspiel werden aus Klageliedern blutige Hasslieder, die ein abschreckendes Porträt der englischen Gesellschaft besingen. Im Hintergrund sind zudem die Fanfaren zum 25-jährigen Thronjubiläum der englischen Königin zu hören, die die brutalen Ereignisse in Yorkshire verhöhnen.

Wuchtige und wutige Literatur also, die sich in kein Korsett zwängen lässt, egal ob es nun „Kriminalliteratur“ oder „Brit Noir“ heißt. Das „Red Riding Quartet“ ist so mehrdeutig wie sein Titel. Der hat verschiedene Bedeutungen: Riding, so hießen vor 1974 die Bezirke in Yorkshire, der „Red Riding“ ist eine Anspielung auf den „roten Bezirk“, in dem schon seit Jahrzehnten die Labour Party das Sagen hatte, in dem sich aber auch das Blut der Opfer wiederfindet. Die dritte Anspielung hat ihren Ursprung in der Märchenwelt: „Little Red Riding Hood“ ist das Rotkäppchen, dem der böse Wolf auflauert. Schon in „1974″ gibt es Morde an Kindern, „1983″ werden weitere folgen. Allein: Ein Märchenerzähler ist David Peace nicht. Seine Geschichten sind verwurzelt in der Realität der Ripper-Jahre und reflektieren auf kunstvolle und einzigartige Weise das, was damals geschehen ist. Mit allen bitteren Konsequenzen. Großartig.

David Peace: 1977 / Aus dem Englischen von Peter Torberg. – München : Liebeskind, 2006
ISBN-10: 3-935890-36-2
ISNB-13: 978-935890-36-6

Originalausgabe: David Peace: Nineteen Seventy Seven. – London : Serpent’s Tail, 2000

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David Peace über sein “Red Riding Quartet” in der Crime Time
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