Der Tod einer schönen Tabakverkäuferin

vom Krimiblogger

The Beautiful Cigar Girl
Daniel Stashower: The beautiful cigar girl : Mary Rogers, Edgar Allan Poe, and the invention of murder

Es gibt Kriminalfälle, von denen man bis heute nicht weiß, ob sie überhaupt ein Kriminalfall sind. Der immer noch ungeklärte Tod von Mary Rogers gehört dazu. Am 28. Juli 1841 wurde die Leiche der jungen Frau in Hoboken, in der Nähe von New York, aus dem Hudson geborgen. Wie Mary Rogers, die als Tabakverkäuferin arbeitete und eine ausnehmende Schönheit gewesen sein soll, ums Leben kam, ist bis heute ein Rätsel, das öfters auch auf literarische Weise gelöst werden sollte. Edgar Allan Poes Erzählung „The Mystery of Marie Rogêt“ (dt.: „Das Geheimnis um Marie Rogêt“) dürfte mit Abstand das berühmteste Werk sein, in dem der jungen Mary ein Denkmal gesetzt wurde. In Poes Erzählung versucht sein Detektiv Auguste Dupin die Umstände des Todes von Mary Rogers aufzuklären, allerdings räumlich nach Paris versetzt. Wie Poe aus dem realen Fall der Mary Rogers das fiktive Geheimnis der Marie Rogêt geschaffen hat, wie sein Dupin zu einer – nicht unumstrittenen – Lösung kam und welchen Einfluss die damalige Berichterstattung in den Zeitungen hatte, diesen Fragen geht der US-amerikanische Autor Daniel Stashower in seinem Buch „The beautiful cigar girl“ nach. In einer Mischung aus Kriminal-, Kultur- und Literaturgeschichte zeigt er auf, wie aus einem mutmasslichen Verbrechen ein literarischer Mordfall wurde, und liefert zugleich auch ein facettenreiches Bild des frühen Boulevardjournalismus.


Im ersten Teil seines Buches beschreibt Daniel Stashower zunächst abwechselnd die Lebensläufe von Mary Cecillia Rogers und Edgar Allen Poe. Akribisch schildert er die teils unklaren Familienverhältnisse, denen Mary Rogers entstammt, zeichnet ihren Weg vom ländlichen Conneticut, wo sie 1820 geboren wurde, bis ins pulsierende New York nach, wohin Mary zusammen mit ihrer Mutter 1837 zog. Während ihre Mutter Phoebe eine Pension unterhielt, arbeitete Mary als Verkäuferin im Tabakgeschäft von John Anderson. Der wohlhabende Geschäftsmann hatte offenbar ein Auge auf die schöne Mary geworfen, die mit ihrem dunkelhäutigen Teint und ihrem Lächeln den Männern in seinem Geschäft den Kopf verdrehte. Ob zwischen Mary und John Anderson eine Liaison entstanden ist, bleibt eines jener Rätsel, die das Leben von Mary umranken. Sicher ist nur, dass in Andersons Geschäft auch zahlreiche Literaten verkehrten, darunter James F. Cooper, Washington Irving und der junge Edgar Allan Poe, der 1837 das erste Mal nach New York kam.

Poe kannte also die junge Frau, die einige Jahre später Vorlage für eine seiner literarischen Figuren werden sollte. Auch Poes Lebensgeschichte wird von Daniel Stashower nachgezeichnet, wobei er den Schwerpunkt auf Poes Schaffen als Dichter, Kritiker und Herausgeber von Zeitschriften legt. Das Auf und Ab in Poes Leben, wie zum Beispiel der frühe Verlust der Eltern, das gestörte Verhältnis zu seinem Pflegevater John Allan, die schwere Erkrankung seiner Frau und natürlich seine Alkoholsucht, fand auch in seiner beruflichen Laufbahn ihren Niederschlag. Streitbarer und gefürchteter Literaturkritiker, gefeierter Lyriker oder verarmter Lebenskünstler – Stashower leuchtet die Biografie Poes exakt und ohne Überzeichnung aus.

Das geheimnisvolle Verschwinden

Mary Rogers - Das schöne TabakmädchenAls im Sommer 1841 der Tod von Mary Rogers die New Yorker erschütterte, lebte Poe in Philadelphia, schlug sich als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften durch und träumte davon, seine eigene Zeitschrift unter dem Titel „The Stylus“ herauszubringen. Den mutmasslichen Mord an Mary Rogers verfolgte er – wie später sein Detektiv Dupin in der Erzählung – vor allem durch die Lektüre von Zeitungsberichten. Die amerikanische Presse erlebte zu diesem Zeitpunkt einen revolutionären Umbruch: Die so genannten „Penny Papers“ sorgten dafür, dass Zeitungslesen nicht mehr das Vorrecht der gehobenen Schichten blieb. Arbeiter und Angestellte konnten sich – dank des niedrigen Preises von einem Cent – nun auch Zeitungen leisten, die natürlich auch über den vermeintlichen Mord an Mary Rogers ausführlich berichteten.

Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte Mary, aufgrund ihrer Schönheit, eine gewisse Berühmtheit in New York, das damals etwa 300.000 Einwohner zählte, erlangt. Schon einmal, im Oktober 1838, sorgte das kurzzeitige Verschwinden von Mary für einiges Aufsehen. Doch Mary fand sich schnell wieder im Hause ihrer Mutter ein. Im Sommer 1841 verhielt sich das anders. Am Sonntag, den 25. Juli 1841, verschwand sie erneut und dieses Mal sollte sie nicht wiederkehren. Drei Tage später wurde Mary Rogers Leiche aus dem Hudson gefischt.

Da bei einer ersten Leichenbeschau Druckmale von Fingern an ihrem Hals nachgewiesen wurden, ging man von Erdrosseln als Todesursache aus. Die „Penny Papers“ spekulierten ausführlich über die möglichen Täter. Federführend dabei war der Verleger James Gordon Bennett senior, der in seinem Massenblatt „New York Herald„ der Polizei Untätigkeit vorwarf und die Täter bei kriminellen Banden, den „Gangs of New York“, ausmachte. Bennett gründete sogar ein Bürgerkomitee, das eine Belohnung für die Ergreifung der Täter aussetzte. Andere Zeitungen wiederum nannten konkrete Namen oder spekulierten darüber, dass Mary Rogers gar nicht tot sei, da eine Wasserleiche nicht innerhalb von drei Tagen wieder auftauchen würde.

Dramatische Wendungen

Mary Rogers - Das schöne Tabakmädchen Die Polizei hingegen nahm vor allem Marys frühere Verehrer Alfred Crommelin, Archibald Padley und William Kiekuck ins Visier. Alle drei Männer waren Mieter in der Pension von Marys Mutter und alle drei hatten Mary einst den Hof gemacht. Besonders verdächtig erschien der Verlobte von Mary, der Korkschneider Daniel Payne, der ebenfalls in der Pension zur Miete wohnte. Paynes Alibi, der zum Zeitpunkt von Marys Verschwinden zusammen mit seinem Bruder in Bars unterwegs gewesen sein soll, wurde vor allem von der Presse in Frage gestellt. Als der Druck auf Payne immer größer wurde, legte er bei Zeitungen Erklärungen von Zeugen vor, die seine Angaben bestätigten.

Der Fall Mary Rogers nahm schließlich eine erste dramatische Wendung, als am 25. August 1841 spielende Kinder in einem Gebüsch verschiedene Kleidungstücke und ein Taschentuch mit dem Monogram „M.R.“ fanden. Die Kinder waren die Söhne der Wirtin Frederica Loss, die in der Nähe von Hoboken eine Gastwirtschaft betrieb. Es dauerte einige Tage, bevor Frederica Loss die Polizei benachrichtigte. Als die Beamten sie verhörten, verstrickte sich die Wirtin in Widersprüche, erinnerte sich dann aber plötzlich daran, Mary Rogers am Tag ihres Verschwindens in Begleitung eines „dunkelhäutigen Mannes“ gesehen zu haben. Wiederum stürzten sich die Zeitungen auf den Fund und die Aussagen der Wirtin, die polizeilichen Ermittlungen kamen aber kaum vom Fleck.

Das nächste tragische Ereignis war der Tod von Daniel Paynes, Marys Verlobten, der am 7. Oktober 1841 in Hoboken auftauchte, sich in der Wirtschaft von Frederica Loss betrank, und sich schließlich am Fundort der Kleidungsstücke mit Laudanum vergiftete. Paynes Selbstmord wurde nicht als Schuldgeständnis gewertet, vielmehr sah man in seinem Suizid die Tat eines liebeskranken Mannes, der ohne Mary nicht mehr leben wollte. Es sollte etwa ein Jahr dauern, bis das nächste Ereignis eine neue Spur in den Fall Mary Rogers brachte – ein Fall, mit dem sich mittlerweile auch Edgar Allan Poe beschäftigte.

Wahrheiten und Widersprüche

Mary Rogers - Das schöne Tabakmädchen Im Sommer 1842 hatte sich Poe über Mary Rogers und ihren Tod informiert und bot dem Verleger Joseph Evans Snodgrass eine Fortsetzung zu seiner Erzählung „Murders in the Rue Morgue“ (dt.: „Der Doppelmord in der Rue Morgue“) an, die in Snodgrass Zeitschrift „Graham’s Magazin“ erschienen war. „The Mystery of Marie Rogêt“ sollte sich auf „den wirklichen Mord an Mary Cecilla Rogers“ stützen, wie Poe seinem Verleger in einem Brief ankündigte. Doch Snodgrass lehnte ab, ebenso wie ein weiterer Verleger, dem Poe seine Erzählung ebenfalls angeboten hatte. Schließlich fand er doch noch einen Verleger und so erschien der erste Teil von „Marie Rogêt“ im November 1842 in „Ladies’ Companion“. Da Poes Erzählung recht lang geworden war, sollte sie in drei Teilen erscheinen.

Zu diesem Zeitpunkt nahm der Fall Mary Rogers eine erneute Wendung: Die Wirtin Frederica Loss wurde von einem ihrer Söhne aus Versehen angeschossen. Mehr als zwei Wochen lag Loss auf dem Sterbebett und gestand, dass Mary Rogers an ihrem Todestag zusammen mit einem „dunkelhäutigen“ Mann in der Wirtschaft erschienen sei und dort eine Abtreibung vornehmen lies, an deren Folgen sie letztlich starb. Um den verbotenen Schwangerschaftsabbruch zu vertuschen, wurde Marys Leiche in den Fluss geworfen. Das Geständnis der sterbenden Wirtin brachte also eine mögliche Erklärung, dennoch blieben Fragen offen, wie zum Beispiel nach den Druckmalen am Hals von Marys Leiche.

Auch Edgar Allan Poe hatte in seiner bereits fertigen Erzählung eine andere Lösung des Mordfalls Mary Rogers resp. Marie Rogêt vorgesehen. Zudem waren die ersten beiden Teile seiner Erzählung bereits veröffentlicht, nur der dritte Teil stand noch aus. Poe schrieb daraufhin den letzten Teil um und ergänzte ihn um Fussnoten. So deutete er die Möglichkeit an, dass Mary/Marie im Hause der Madam Deluc, die der realen Wirtin Frederica Loss entspricht, Opfer einer „Bande“ geworden sei. An seiner eigentlichen Lösung hält er jedoch auch nach seinen Änderungen fest: Demnach könnte Marie von einem ungenannten Seemann ermordet worden sein, mit dem sie bereits vor drei Jahren bei ihrem ersten Verschwinden ein Verhältnis gehabt habe. Poes Erzählung endet für eine Detektivgeschichte recht offen und wage, kommt daher der Wahrheit aber vielleicht näher als all die Spekulationen, die sein Dupin aus den Zeitungen kennt und die er so wunderbar widerlegt. Somit bleibt der Tod der „schönen Tabakverkäuferin“ Mary Rogers auch heute noch ein ungelöster Fall, möglicherweise war es sogar kein Mord sondern ein tödlich verlaufener Schwangerschaftsabbruch.

Poe und die „Penny Papers“

Mary Rogers - Das schöne Tabakmädchen Daniel Stashower beschreibt diesen recht verworrenen „Kriminalfall“ sehr anschaulich und äußerst spannend. In den Mittelpunkt stellt er dabei die Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren: Mary Rogers, die allein durch ihre Schönheit zu einer New Yorker Berühmtheit wurde und deren ungeklärter Tod ihr zu einer Unsterblichkeit verholfen hat, wie wir sie in der Regel sonst nur von großen Persönlichkeiten kennen, und Edgar Allan Poe, dessen Leistungen als Dichter und Literaturkritiker oftmals durch seine tragischen Lebensumstände überlagert werden. Stashower verzichtet glücklicherweise darauf und konzentriert sich auf die Vorgeschichte, die Entstehung und die Wirkung der Erzählung „The Mystery of Marie Rogêt“. Anschaulich zeigt er die Verflechtung von Dichtung und Wahrheit auf, stellt die Wechselwirkung von Fiktion und Wirklichkeit heraus und verdeutlicht, wie sich Realität und Imagination gegenseitig bedingen und beeinflussen.

Hinzu kommt, dass Stashower ein deutlich nüchterneres Bild von Edgar Allan Poe entwirft, als es einige andere Biografen getan haben. Angenehm unaufgeregt wird der Dichter porträtiert und in einen faszinierenden Kontrast zu Mary Rogers gesetzt, die Vorbild für eine seiner literarischen Figuren wurde. Anhand ihrer Biografien entwirft Stashower zugleich ein farbenfrohes, detailliertes Porträt der Stadt New York mit ihren sozialen Problemen, mit ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt und mit ihrer aufblühenden Presselandschaft. Gerade letztere ist sehr wichtig für den „Fall“ Mary Rogers gewesen und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sind die Artikel die Hauptquelle für die damaligen Ereignisse, denn es hat zum Beispiel nie einen Gerichtsprozess gegeben. Zum anderen haben vor allem die „Penny Papers“ den Tod der Mary Rogers zu einem „Fall“ gemacht und die Grundlagen für das gelegt, was wir heute Sensationsjournalismus nennen.

Stashower, Daniel: The beautiful cigar girl : Mary rogers, Edgar Allan Poe, and the invention of murder. – New York : Dutton, 2006
ISBN 0-525-94981-X

Eine deutsche Übersetzung ist mir bislang nicht bekannt.

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Anmerkung: „The beautiful cigar girl“ war nominiert für den Edgar Allen Poe Award 2007 in der Kategorie „Fact Crime“

Links:
→ Homepage von Daniel Stashower
→ Informationen über den Fall Mary Rogers bei Crimelibrary
→ E-Text: Edgar Allan Poe: The Mystery of Marie Rogêt. In: The Works of Edgar Allan Poe. Edited by John H. Ingram. London: A. & C. Black, Soho Square, 1899. Volume 1. (PDF-Dokument). Abrufbar bei der → Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser

Abbildungen:
1. Umschlag eines Romans, der nach dem Fall Mary Rogers geschrieben wurde und 1844 veröffentlicht wurde.
2. Illustration aus „A Confession of the Awful and Bloody Transactions in the Life of Charles Wallace“, veröffentlicht 1851
3. Aus der Zeitung „Herald“ (New York), veröffentlicht am 17. September 1841. Die Abbildung zeigt die Gastwirtschaft von Frederica Loos.
4. Illustration zu The Mystery of Marie Rogêt aus einer Edition von Poe-Erzählungen, veröffentlicht 1852.