Krimi vs. Realität
vom Krimiblogger
Was ist eigentlich “realitätstüchtig“? Über den Realismusbegriff sind in den 80er und 90er Jahren Doktorarbeiten geschrieben worden, die schon damals ziemlich lächerlich waren. Realität ist das, was in einem Text steht. Punkt. Wenn zwei Engel am Horizont fliegen und die Weißwürste nach Bier schmecken und Muckis machen, dann ist das halt die WIrklichkeit des Romans. Meinetwegen auch des Krimis.
schreibt dpr in seinem Kommentar zu meinen Eintrag zur Crime-School.
Nun, die Diskussion um Realismus im Krimi ist in der Tat schon alt. Der Begriff „realitätstüchtig“ fiel mir in einigen Rezensionen von Thomas Wörtche auf. Ich interpretiere diesen Begriff in Bezug auf Kriminalliteratur vor allem als eine Aussage in Bezug auf Plausibilität und Glaubhaftigkeit. Kriminialliteratur wird – spätestens seit dem Aufkommen des sogenannten Soziokrimis – immer wieder (auch) als Gesellschaftsroman gesehen. Einige Interpreten gehen sogar soweit zu sagen, dass er die einzige, moderne Form des Gesellschaftsromans sei und/oder behaupten, der Kriminalroman könne die menschlichen Realitäten glaubwürdig kritisieren. Sjöwall/Wahlöö etwa nutzten die Form des Kriminalromans, um Kritik am schwedischen Polizeisystem und letztlich an der Politik ihres Landes zu üben. Das hier die – bis dahin oft recht simple Form der Spannungsliteratur – manchmal überfordert war, scheint mir nicht von der Hand zu weisen. Andererseits gab dies dem Kriminalroman neue Impulse und Richtungen – der Kriminalroman und seine Ästhetik wuchs an der Aufgabenstellung, gesellschaftspoltische Positionen zu beziehen.
Der verklemmte Krimileser
Heute wird darüber gerne die Nase gerümpft, weil Kriminalliteratur ja vor allem als Unterhaltungsliteratur gesehen wird. Ich denke, diese Trennung zwischen reiner Unterhaltung und sogenannter „hoher“ Literatur hat sich überlebt – auch wenn es natürlich nach wie vor für beides Bespiele gibt. Es spricht ja nichts dagegen, wenn mich ein Krimi gleichzeitig unterhält und aufklärt, spannend und schlau zugleich ist. Realismus oder „realitätstüchtig“ ist in diesem Zusammenhang vor allem eine Frage der Logik, der Nachvollziebarkeit, der Glaubhaftigkeit. Das tatsächliche Morde im Polizeialltag eher tragisch, traurig und trist, meistens aber nicht spannend sind, wird wohl kaum jemand bestreiten. Eigentlich kein Stoff also für eine Spannungsgeschichte. Also hat Kriminalliteratur nichts mit Realität zu tun? Da habe ich meine Zweifel. Um als Geschichte packend zu sein, muss er schon glaubhaft und „echt“ wirken. Wenn zwei Engel durchs Bild fliegen, dann mag das die Realität des Textes sein, mit meiner Leserwirklichkeit hat das nichts zu tun. Bleibt die Frage, was mit oft surrealen, absonderlichen, schrägen Texten, wie zum Beispiel von Heinrich Steinfest, ist. Überzogene oder überspitzte Darstellung von Realität im Text kann sehr wohl auf die Wirklichkeit des Lesers zurückgreifen oder sie ihm erst dadurch verdeutlichen, Sinne und Verstand schärfen.
Bin ich damit ein „verklemmter“ Krimileser, wie es Anne Chaplet in ihrem Artikel „Berichte aus dem prallen Leben“ (Welt) behauptet? Frau Chaplet schreibt:
„Literatur bildet nicht Wirklichkeit ab, sonst wäre sie Kolportage. Sie verdichtet Realität, höchstens. Vor allem kennt sie keinen Herrn – weshalb mir scheint, der Verweis auf die Realitätsnähe eines Krimis ist nichts als der gängige Vorwand für den verklemmten Krimileser. Das Genre selbst hat ihn nicht nötig. „
Kriminalliteratur hat also nichts mit der Wirklichkeit zu tun? Autoren und Autorinnen fristen lebensfern ein Dasein im Elfenbeinturm der hohen Literatur? Woher nehmen sie ihre Figuren, ihre Geschichten, ihre Sprache? Wirklichkeit beeinflußt nicht? Ich kann es nicht glauben.
Mythos statt Wirklichkeit?
Andererseits: Jerry Cotton – als Figur in den Heftchenromanen – hat nicht unbedingt viel mit der Wirklichkeit eines Agenten des FBI zu tun. Dennoch hat es diese Figur zu einem Mythos geschafft – jenseits der Wirklichkeit. Auch ein Hannibal Lecter ist deutlich überzogener und künstlicher, als es wirkliche Serienmörder sind. Auch er ein moderner Mythos – der eben vielleicht deshalb überhaupt zum Mythos werden konnte, weil er nichts oder nur wenig mit der Realität zu tun hat. In der Tat zeigt sich, dass viele großen Figuren der Kriminalliteratur ( zum Beispiel Sherlock Holmes, Miss Marple oder Sam Spade) kaum etwas mit realen Menschen zu tun hatten. Künstlichkeit als Mittel zum Ruhm? Auch da habe ich meine Zweifel, denn viele dieser Figuren sind in ihrem Mythos gefangen und haben nur wenig mit meiner Lese- und Leserwirklichkeit zu tun. Sie sind, kurz gesagt, Pornografie für den geistigen Eskapismus. Das mag mal unterhaltend sein, doch wie bei den beliebten bunten Heftchen nutzt sich der Effekt schnell ab und neue Reize müssen her. Das ist allenfalls Gebrauchsliteratur, die einen Zweck zu erfüllen hat. Anregung jenseits des kurzen Kicks oder Schärfung der Sinne findet so gut wie nicht statt. Die bedürfen des Realitätsbezugs – die Kriminalgeschichte muss auch etwas mit mir, meinem Leben zu tun haben – sonst kann sie nicht in mein Denken eingreifen oder meine Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, dass mir bislang egal oder schlicht unbekannt war.
Kommentare
Ich würde Frau Chaplet sogar soweit widersprechen, dass ein gewisses Maß an Realitätsnähe (oder eben feuilletonistisch ausgedrückt: „Wirklichkeit“) ein unabdingbares Kriterium für den Kriminalroman an sich ist – sonst heißt es Science Fiction und kann/sollte/muss unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet werden.
Dass die ein oder andere Figur vielleicht nicht ganz aus der Wirklichkeit entsprungen ist, tut dabei wenig zur Sache. Vielleicht zweifelt auch in 100 Jahren mal ein Leser, ob es diesen Stephen Hawking tatsächlich gegeben hat. Holmes mag so wie Doyle ihn beschreibt nie durch London stolziert sein – die Fälle hingegen wirken durchaus so, dass Lestrade sie hätte behandeln müssen.
Zu besagter „Realitätssucht“ fiele mir nur tatsächlich langweiliger Ermittler-Alltag ein, der wahrscheinlich nur die wenigsten Zeilen Wert ist. Vergessen wir nicht, dass der Kriminalroman zur Belletristik gehört. Da darf gekürzt oder verstärkt werden, aber ein Wallander mit Laserschwert oder Bond-BMW gibt nun wirklich keinen Krimi her 😉
Hallo Jungs,
ich widerspreche euch nicht gerne – aber natürlich mit dem größten Vergnügen. Um es pointiert zu sagen: Literatur, die kein Eskapismus ist, ist keine Literatur. Ich wechsele von meiner Welt in eine andere, von meiner Wirklichkeit in die eines Textes. Dieser kann, muss aber nicht die Bedingungen von Wirklichkeit erfüllen, die in meiner Welt herrschen. Was mich an dieser ganzen, seit Jahrhunderten geführten Diskussion ein bisschen ärgert, ist die Nonchalence, mit der „Wirklichkeit“ reklamiert wird. Wessen Wirklichkeit? Bis zu welchem Grad ist es wirklich, wann kippt es in Unwirkliche, oder, wie Lars sagt, in SF? Nehmen wir Vladimir Nabokov, der den besten Roman des Jahrhunderts (jawoll!) geschrieben hat, die „Lolita“. Dieser Text enthält viele Schichten von „Wirklichkeit“, autobiografische, tagträumerisch ersonnene, kalt am Schreibtisch konstruierte usw. Mit MEINER WIrklichkeit mag das nichts zu tun haben, aber in diesem Roman existiert sie halt. Wichtig ist das, was ich „Kommunikation zwischen Text und Leser“ nenne. Wenn es dem Autor gelingt, mir die Wirklichkeit seines Textes plausibel zu machen, und zwar so, dass ich mit diesem Text eine „Unterhaltung“ beginnen möchte, dann verändert das auch meine „Wirklichkeit“. Es ist richtig, dass Sjowall/Wallöö ihre Romane geschrieben haben, um den Polizeistaat Schweden und überhaupt den immer mehr degeneriertenden Sozialstaat Schweden zu attackieren. WIE sie es aber gemacht haben, hat mir DER Wirklichkeit nicht mehr das Geringste zu tun. Es gibt bei Sjöwall / Wallöö Passagen, die einfach ins Groteske überzeichnet sind, es gibt Passagen, in denen sie die „Wirklichkeit“ dermaßen manipulieren, dass ein Leser, dem es nur darum ginge, den schwedischen Alltag kennenzulernen, das Buch wahrscheinlich in die nächste Ecke feuern müsste. DENNOCH sind diese Romane „wirklich“, aber halt nicht im empirischen Sinn, sondern im künstlerischen.
Aber das nur mal angerissen. Ihr beide kommt hoffentlich weiter in die crime school, wer unentschuldigt fehlt, wird ins Klassenbuch eingetragen!
Hallo,
da mich dpr´s Text beschäftigt hat, erlaube ich mir eine subjektive Stellungnahme.
Realität (Wirklichkeit) ist alles, was der Fall ist; nicht das was denkbar ist. Irgendwie habe ich das Gefühl das dpr „Realität“ anders definiert.
DENNOCH sind diese Romane “wirklich“, aber halt nicht im empirischen Sinn, sondern im künstlerischen
Eben: Es gibt einen Unterschied zwischen empirischer und künstlerischer Wirklichkeit. Mathematisch gesehen ist ein Text (also die künstlerische Wirklichkeit) eine Abbildung. Eine Abbildung und das von ihr abgebildete (die empirische Wirklichkeit) kann aber nicht gleichgesetzt werden ! Welchen erkenntnistheoretischen Gewinn hätte es auch, die Realität eines Texte mit der Realität der Welt gleichzusetzen ? Wohl keinen: Der Verlust von Information erhöht höchstens die Übersichtlichkeit. Wenn es denn einen Unterschied zwischen empirischer und künstlerischer Wirklichkeit gibt, dann kann die künstlerische der empirischen mehr oder weniger ähneln. Und ein Maß dafür kann z.B. die Realitätstüchtigkeit sein.
Wenn es dem Autor gelingt, mir die Wirklichkeit seines Textes plausibel zu machen, und zwar so, dass ich mit diesem Text eine “Unterhaltung†beginnen möchte, dann verändert das auch meine “Wirklichkeit“.
Auch wenn ein Text meine Wahrnehmung von der Welt (Wirklichkeit) beeinflusst, kann der Inhalt des Textes doch empirisch unwirklich sein! Das Ausmaß der Beeinflussung meiner Wahrnehmung durch einen Text ist unabhängig von seiner realitätsnähe. Die Beeinflussung sagt etwas über mich aus, nicht über die „Abbildungsqualität“. Manche sehen in den Schatten böse Gespenster und andere gute Feen.
Wenn Realität das ist was im Text steht, was ist dann Fiktion ? Die Wirklichkeit des Textes macht den Inhalt des Textes nicht real … das sind verschiedenen Ebenen.
Hallo Bernd,
ich könnte es natürlich mit dem alten Taschenspielertrick versuchen, Fiktion als Teil der Wirklichkeit zu definieren, weil sie ja unbezweifelbar ihren Ursprung in der Wirklichkeit nimmt, sprich dort produziert wird. Aber es ist schon komplexer, und ich taste mich in der crime school so allmählich ran an die Sache. Es gibt übrigens einen merkwürdigen Text von Arno Schmidt, „Berechnungen II“, in dem er das, was er „Längeres Gedankenspiel“ nennt, definiert. Er unterscheidet drei Arten: den Gegensatz (Buchhalter tagträumt sich zum Helden), die Parallele (die Welt ist schlecht, also auch die Fiktion) und die „Steigerung ins Bedeutend-Allgemeine“ (die Misere des Einzelnen wird zur Misere der Welt, der Wirklichkeit). Hochinteressant. Summa: Jeder Text ist unwirklich, wird aber im Dialog mit dem Leser wirklich, weil er mit einer Realität zusammenprallt, sie durchdringt, von ihr durchdrungen wird. Stay tuned.
bye
dpr
Was mir eben noch eingefallen ist, Bernd: Du schreibst, es habe keinen erkenntnistheoretischen Gewinn, die Realität eines Textes mit der Realität der Welt gleichzusetzen. Meiner Meinung nach entsteht Erkenntnis durch Sprache, und auch „die Abbildung von Wirklichkeit“ entsteht natürlich durch Sprache. Das heißt, dass die „Realität der Welt“ solange erkenntnismäßig gleich Null ist, wie ich sie nicht abbilde. Das was du Fiktion nennst, konstituiert gerade das, was Realität ist und erlaubt Erkenntnis, liefert Informationen. Du hast Recht, dass hier irgendetwas mit „Wirklichkeit“ geschieht. Sie wird quasi subjektiv gebrochen. Stell dir vor, du müsstest eine alltägliche, sehr „wirkliche“ Situation beschreiben, etwa einen Mann, der mit seinem Koffer durch die Bahnhofsvorhalle schlurft, sich schließlich erschöpft auf eine Bank setzt, den Koffer neben sich stellt. Schon die Tatsache, dass ich diese Situation beschreibe, emanzipiert sie von DER empirischen WIrklichkeit. Und das, was du an Beschreibung liefern würdest, täte das auch. Würdest du deine Beschreibung einem anderen zu lesen geben, der genauso wie du die Szene in Natura beobachtet hat, würde der dich möglicherweise eine „Fiktionalisten“ schimpfen, weil ER das Ganze völlig anders in Erinnerung hat. Und so weiter. Das ist ein unerschöpfliches Thema, ich glaub seit Platos Höhlengleichnis. Es gibt keine allgemeingültige Definition von Realität, und das ist gut so. Für mich ist Wirklichkeit zuvörderst ein Lese- und Denkprozess. Gestern habe ich in der crime school zu beschreiben versucht, wie durch die Lektüre eines Romans der Leser selbst zum Detektiv wird und mehrere Ebenen „Wirklichkeit“ miteinander in Beziehung setzt. In der nächsten Folge wird die Sache noch krasser. Da geht es um Biografie, und da weiß ich nun, wovon ich rede. Ich habe, soviel Schleichwerbung muss sein, vor Jahren eine Biografie der Songwriterin Joni Mitchell geschrieben ( den obligatorischen AMAZON-Link verkneife ich mir), und mein Hauptproblem war es, wie ich die „Wirklichkeit“ dieses Lebens abbilden sollte. Keinesfalls wollte ich die empirische Wirklichkeitt imitieren, also nicht strikt chronologisch vorgehen. Also habe ich das Leben meines „Gegenstandes“ quasi in diverse Persönlichkeiten zerteilt (die Künstlerin, die Frau, das Vorbild etc.) und dann erst chronologisch jeden Strang entwickelt.
Oh, ich denke, die crime school wird noch ne spannende Sache, sie entwickelt eine Eigendynamik, die ich nicht erwartet hätte. Schön so.
bye
dpr
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