Wahrheit oder Wahn?

vom Krimiblogger

Der langsame Tod der Luciana B.Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B.

An Jorge Luis Borges, dem großen Schriftsteller der argentinischen Literatur, scheint kaum einer seiner schreibenden Landsleute vorbei zu kommen. An ihm und seinem Werk arbeiten sich Autoren der jüngeren Generation offensichtlich gerne ab. So zum Beispiel der 1962 geborene Guillermo Martínez, der von Hause aus Mathematiker ist und unter anderem eine Abhandlung über “Borges y la matematica“ (“Borges und die Mathematik“) verfasst hat. Auch in seinem an literarischen Anspielungen und Verweisen reichen Roman “La muerte lenta de Luciana B“ – bei uns unter dem Titel “Der langsame Tod der Luciana B.“ kürzlich erschienen – finden sich starke Bezüge zum Wegbereiter der postmodernen Literatur. Der belesene Borges spielte in seinen Erzählungen gerne mit seinen Lesern, sorgte durch das Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion für Verunsicherung. Ähnliches findet sich nun in dem Roman von Martínez, der über das langsame Sterben der jungen Luciana B. berichtet.

Als junge Studentin war Luciana Sekretärin des berühmten Schriftstellers Kloster, der in seiner Heimat als Nationalheld gefeiert wurde. Sie schrieb seine Bücher nieder, die er ihr diktierte. Bücher, die oberflächlich Kriminalromane waren, letztlich aber nur als “böse“ bezeichnet werden können. So kategorisiert sie jedenfalls der namenlose Ich-Erzähler und Schriftsteller, der Luciana ebenfalls kennt. Für wenige Wochen stand sie einst als Sekretärin in seinem Dienst, bevor sie schließlich zu Kloster zurückkehrte. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, als Luciana eines Sonntags morgens völlig verzweifelt bei dem namenlosen Schriftsteller anruft. Sie erzählt ihm eine erschreckende Geschichte.

Luciana behauptet, dass Kloster ihre Familie umbringe, nach dem sie seine erotischen Avancen abgelehnt und sogar gegen ihn geklagt habe. Noch während das gerichtliche Verfahren läuft, stirbt Klosters einzige Tochter. Er gebe Luciana die Schuld am Tod seiner Tochter und deshalb ziehe er in einen geschickt eingefädelten Rachefeldzug. Erst ertrinkt Lucianas Freund, dann sterben ihre Eltern an einer Pilzvergiftung und schließlich wird ihr Bruder von einem Einbrecher ermordet. Der namenlose Schriftsteller, dem Luciana diese Geschichte erzählt, ist gespalten. Der berühmte Nationaldichter Kloster als hinterhältiger Strippenzieher unnatürlicher Tode? Ein Erfinder des Todes, dessen Grausamkeit in seinen Romanen nachzulesen ist? Der Ich-Erzähler steht vor der Frage, ob Luciana die Wahrheit erzählt, oder ob sie unter einem Verfolgungswahn leidet. So recht mag er ihr nicht glauben, dennoch notiert er sich Lucianas Geschichte und konfrontiert Kloster damit. Der wiederum erzählt ihm seine Version der Ereignisse – und die beginnen mit den Notizbüchern von Henry James.

Keine Aufklärung

Martínez lässt seinen Kloster einmal sagen: “Was erzählt denn ein Kriminalroman in erster Linie? Nicht unbedingt die Tatsachen, nicht die aufeinanderfolgenden Leichen, sondern die Vermutungen, die möglichen Erklärungen, das, was dahintersteckt.“ Wie sein großes Vorbild Borges, dessen Porträt immer wieder bei der Figur des Schriftstellers Kloster durchschimmert, lässt Guillermo Martínez am Ende seine Leser verwirrt zurück. Der Autor lotet statt dessen die Möglichkeiten aus, die ihm die Konventionen des Kriminalromans bieten. Wie ein ermittelnder Kommissar oder Detektiv hört der Leser, vertreten durch den namenlosen Ich-Erzähler des Romans, verschiedene Versionen der gleichen Geschichte, die eben nicht die gleiche Geschichte ist – so, wie es eben nicht eine Realität gibt.

Eine Aufklärung wie im klassischen Krimi findet nicht statt, kann nicht statt finden, denn auf die Frage “Wahrheit oder Wahn?“ gibt es eben keine eindeutige Antwort. Um so stärker strahlt in dieser dunklen Ungewissheit das Diabolische, das Zwielichtige der Kriminalliteratur hervor. Als Mathematiker weiß Martínez, dass die menschliche Logik irgendwo an ihre Grenzen stößt. Spätestens ab da beginnt das Reich des Irrationalen, des Wahns und des Phantastischen. Nur wo diese Grenze liegt, dass muss man als Leser selbst herausfinden. Ein Autor wie Jorge Luis Borges hat Generationen von Lesern an und über diese Grenzen geführt – Guillermo Martínez schickt sich an, es ihm auf spannende Weise gleich zu tun. Er ist auf einem guten Wege dahin.

Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B. / Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. – Frankfurt am Main : Eichborn, 2008
ISBN 978-3-8218-7200-1

Originalausgabe: Guillermo Martínez : La muerte lenta de Luciana B. – Barcelona : Ediciones Destino, S.A., 2007
ISBN 978-84-233-3967-9

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