„Wie Bilder von Hieronymus Bosch“

vom Krimiblogger

Michael Connelly. Photo by Ludger Menke

Ein Interview mit Michael Connelly
Von Ludger Menke

Es gibt Romanhelden, die begleiten einen als Leser für lange Zeit. Hieronymus “Harry“ Bosch, Ermittler bei der Polizei von Los Angeles, ist so ein Held. Erfunden hat ihn Michael Connelly, der zu den erfolgreichsten Autoren in den USA zählt. Geboren wurde Connelly 1956 in Philadelphia. Der Autor kam über seinen Beruf als Kriminalreporter zum Schreiben von fiktiven Kriminalfällen. Darin mag ein Grund liegen, warum seine Romane als gut recherchiert und realistisch gelten. Doch Connelly ist es auch gelungen, mit seinem Helden Harry Bosch einen sehr beliebten Polizisten zu erfinden. Bei uns ist gerade der Roman “Echo Park“, der zwölfte Krimi mit Harry, erschienen. Ich hatte die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Autor, dessen Romane sich immer mehr zu einem großen Gesamtbild zusammenfügen, und der im Interview ausführlich Auskunft nicht nur über seine Figur Harry Bosch gibt.

krimiblog.de: Mr. Connelly, einer ihrer Hauptcharaktere ist Hieronymus “Harry“ Bosch. Seit dem Roman “The Closers“ (2005, dt.: “Vergessene Stimmen“) arbeitet er in der Abteilung “Offen – Ungelöst“ an sogenannten “cold cases“, also Kriminalfällen, die sich vor länger Zeit ereignet haben und immer noch nicht aufgeklärt sind. Seit einigen Jahren gibt es immer mehr Romane, die sich mit solchen “cold cases“ beschäftigen. Was denken Sie, warum interessieren sich immer mehr Leser für solche Fälle?

Michael Connelly: Ich glaube, es gibt zwei Gründe für dieses Interesse des Publikums. Niemand ist erfreut über den Gedanken, dass ein Täter mit seinem Verbrechen davon kommt, besonders nicht bei Mord. Darum ist die Vorstellung, dass es spezielle Polizeieinheiten gibt, die bestimmte Fähigkeiten haben und die von den Erkenntnissen der Wissenschaft profitieren, um alte Fällen aufzuklären, für das Publikum befriedigend. Das viele Autoren über “cold cases“ schreiben, mag auch daran liegen, dass Krimiautoren der Popularität von echten Fällen und realen Polizeigeschichten folgen. Polizeieinheiten überall auf der Welt gehen diesen “cold cases“ nach.

Von meinem Standpunkt als Autor aus erlauben mir die “cold cases“, in der Zeit zurückzugehen. Normalerweise geschieht ein Verbrechen und dann wird direkt danach ermittelt. Bei den “cold cases“ ist es anders – es ist eher wie eine anthropologische Studie. Man kann zurückschauen und über einen Ort zu einer bestimmten Zeit schreiben. In “Echo Park“ habe ich das nicht so ausgiebig getan, aber immerhin beginnt das Buch in 1993 und es gibt Hinweise auf (Bill) Clinton, der gerade gewählt worden war und ähnliche Dinge. Es ist immer faszinierend für einen Autor zurückzugehen oder zurückzuschauen. Der Roman davor, in dem Harry zur Einheit “Offen – Ungelöst“ kam – The Closers – erlaubte es mir, zwischen zwei verschiedenen Zeitebenen in Los Angeles hin und her zu wechseln und die jeweiligen Orte zur jeweiligen Zeit zu beschreiben. Aus Sicht des Schriftstellers ist das sehr interessant.

krimiblog.de: Val McDermid hat mir einmal erzählt, dass sie es schwierig findet, über aktuelle Polizeiarbeit zu schreiben, denn die Ermittlungsarbeit sei sehr technisch geworden. Sehen Sie das auch so?

Michael Connelly: Für mich hat das immer etwas von einer Schaufensterdekoration. Gerade die visuellen Künste stürzen sich ja darauf. Es ist ja auch interessant, dass zu sehen. Eine solche Darstellung der Technik kann eine Geschichte vorwärts treiben. Zum Beispiel bei einer TV-Serie, da hast Du nur eine Stunde und Du musst Deine Antworten schnell bekommen. Dank der Fortschritte zum Beispiel in der Forensik geht das. Aber wenn Du ein Buch schreibst, dann schreibst Du über eine Figur. Die Verbindung zwischen dem Leser und Deinem Buch – das ist die Figur. Es geht nicht um die Technik und all die anderen Dinge, die ihm zur Verfügung stehen. Ich habe das nie als ein Hindernis für mich gesehen. Ich benutze es einfach. Ich schreibe doch hauptsächlich über einen Kerl, der eher zurückliegt, der all diese technischen Neuerungen skeptisch betrachtet, der nörgelt, wenn er sie benutzen muss. Immerhin hat er jetzt ein Handy. Im nächsten Buch wird er einen iPod haben. Man kann sagen, dass er sich nörgelnd der neuen Technik nähert und sie beherrscht, sie bleibt ihm aber suspekt. Das macht ihn in meinen Augen interessant. Ihm ist die Beinarbeit lieber, er geht lieber hinaus und findet die Hinweise selbst, als einen Typen in der Forensik anzurufen, der ihm dann sagt “Die DNA verrät dieses oder jenes.“

Ich achte immer mehr auf meine Charaktere, bin mir aber bewusst, dass es all diese Technik gibt und sie wertvoll sein kann. Aber sie bleibt eine Randerscheinung, sie hat nicht im Vordergrund zu stehen.

“Es kommt auf jeden Einzelnen an“
Echo Park
krimiblog.de: In “Echo Park“finden sich verschiedenen Anspielungen auf reale Begebenheiten. Sie haben bereits Clinton erwähnt, im Roman gibt es weiterhin eine Anspielung auf die Unruhen in Los Angeles nach dem Rodney-King-Fall 1992. Wie wichtig sind für Sie als Autor solche realen Vorfälle oder echte Kriminalfälle?

Michael Connelly: Ich kann die Frage nur für mich persönlich beantworten. Das ist wichtig, denn ich war Reporter, als diese Unruhen passierten und mein Anliegen ist es, so akkurat wie möglich über die Ereignisse und die Stadt zu schreiben. Auch wenn sich die Unruhen 1992 und 93 ereigneten, sind sie nach wie vor für eine Gruppe von Menschen, die damals dort lebten, sehr wichtig. Sie sind wie eine Narbe, mit der die Menschen leben müssen. Daher wollte ich im Buch eine bestimmte Präsenz dieser Ereignisse haben. Außerdem blicke ich auch auf meine eigenen Erfahrungen zurück, denn ich habe damals als Reporter über die Unruhen berichtet. Also nimmst Du das, was sich in Deinen Gedanken abspielst und packst es in ein Buch.

Ich habe ein großes Geschenk bekommen, denn ich kann über die Figur Harry Bosch nun schon seit zwanzig Jahren schreiben. Er ist in Echt-Zeit älter geworden, wie auch die Stadt, in der er lebt. Ich bin mir bewusst, welches Glück ich mit dieser Figur habe. Ich kann einen Charakter zeigen, wie er sich entwickelt und ich kann eine Stadt zeigen, die sich entwickelt. Und ich kann über die realen Ereignisse und Dinge schreiben, die wichtig sind.

krimiblog.de: Stichwort “Entwicklung“. Wenn man ihre Romane als Ganzes betrachtet, so gibt es sehr viel Veränderungen. Was glauben Sie würde ihr Harry Bosch zu den jüngsten Veränderungen in ihrem Land sagen – etwa zum Präsidenten Barack Obama?

Michael Connelly: Lassen Sie mich dazu zwei Dinge sagen. Erstens: In Ihrer Formulierung schwingt die Frage nach dem Geheimnis mit. Nämlich die Frage “Wie machen Sie das?“ Sehen Sie, ich weiß nicht, wie man eine Figur für so eine lange Zeit interessant gestalten kann. Klar, ich habe einige Ideen, einige Einfälle und einer davon ist, dass er sich immer wieder verändern sollte und sich entwickeln sollte. Von Buch zu Buch wird er niemals der gleiche Kerl bleiben. Der Schwerpunkt fällt in jedem Buch anders aus, es geht mir nicht nur allein um den Plot, wenn Harry immer anders wird. Ich wünsche mir, dass die Leser jedes Mal, wenn sie einen Harry-Bosch-Roman lesen, neugierig darauf sind, was es Neues gibt und wie sich Harry verändert hat.

Aber es gibt auch Beständiges – nämlich Harrys Philosophie von Fairness und Gerechtigkeit. Er ist ein Typ, der fest dran glaubt, dass es auf jeden Einzelnen ankommt – everybody counts or nobody counts. Das ist seine Einstellung, sein Ding. Nun fragen Sie mich, ob man Verbindungen ziehen kann zu den Veränderungen in meinem Land. Ich glaube, das ist ein Satz, den sich auch Obama auf die Fahnen schreiben könnte. Ich denke, Obama ist jemand, für den jeder Einzelne zählt. Da wären Harry und er wahrscheinlich einer Meinung.

Natürlich ist Harry eine fiktionale Figur, aber ich glaube, er wäre begeistert über das, was sich da im Land tut. Schließlich hat Harry seine Erfahrungen mit Krieg, er würde sich Gedanken darüber machen, wie wir uns zum Beispiel aus dem Irak zurückziehen können. In einem meiner Romane sagt er sinngemäß, wie wichtig es ist, Hoffnung zu haben. Das war einer der Ecksteine von Obamas Wahlkampagne. Ich denke, es gibt schon Verbindungen zwischen Harrys Philosophie und Obamas Philiosophie. Ich finde das interessant und ich denke, Harry würde das auch so sehen.

“Los Angeles ist ein einzigartiger Ort“

Michael Connelly by Ludger Menke krimiblog.de: Aber Ihr Harry ist ja schon ein Mann – ähnlich wie Obama – mit einer Mission. Er behauptet einmal von sich, dass er für die Toten spräche. Nun haben Sie als Reporter sicher viele Polizisten getroffen. Wie realistisch ist es, dass ein Polizist eine solche Mission hat?

Michael Connelly: Es ist schon realistisch – aber kommt selten vor. Ich kenne einige Ermittler, über die ich schon sagen würde, dass sie Männer mit einer Mission sind. Sie haben das Gefühl, dass sie eine bestimmte Aufgabe in ihrem Leben haben, nämlich das Böse von der Bildfläche zu vertreiben. Und in dem sie das tun, repräsentieren sie auch die Toten. Ich kenne Ermittler, die haben Bilder von Toten auf ihrem Schreibtisch und nicht Bilder von ihrer Familie. Bilder von Menschen, die ermordet wurden und deren Mörder immer noch nicht gefunden wurden. Die Bilder erinnern sie daran. Das ist vielleicht ein kleiner Hinweis darauf, ob jemand auf einer Mission ist.

Wenn ich für meine Bücher recherchiere und mit Polizisten spreche, versuche ich mir vorzustellen, was für Menschen das sind. Es gibt Polizisten, die ihren Dienst nach Vorschrift leisten und um fünf Uhr den Bleistift fallen lassen, um pünktlich nach Hause zu gehen. Natürlich können das gute Polizisten sein – aber das sind nicht die, über die ich schreiben möchte. Es sind Menschen wie Harry, über die ich schreiben möchte.

Es gibt weltweit echte Polizisten, Ermittler und Kommissare, die meine Bücher lesen. Mein Harry spricht sie offenbar an. Ich bekomme zahlreiche E-Mails – zum Teil von sehr weit weg, zum Beispiel aus Neuseeland oder aus Indien – und darin schreiben sie mir, dass ihnen gefällt, was Harry macht. Sie verstehen ihn und bitten mich, diese Figur beizubehalten. Deshalb glaube ich, dass Harry nun nicht unbedingt eine Ausnahme darstellt. Als ich also eben gesagt habe, sie sein selten, ist das vielleicht zu übertrieben. Es gibt einige Menschen da draußen, die wie Harry ticken.

krimiblog.de: Harry lebt und arbeitet in Los Angeles. Ich habe gelesen, dass Sie vor einigen Jahren von dort nach Florida gezogen sind. Wie wichtig ist dieser Ort Los Angeles für die Figur Harry?

Michael Connelly: Ich glaube, es ist schwierig, sich Dinge wie “Ort“ oder “Figur“ heraus zu picken. Ich glaube, dass sind alles Teile eines Ganzen. Es geht darum, Figuren zu erfinden und zu entwickeln. Ja, natürlich ist der Ort sehr wichtig. Ich werde ihn nicht nach Florida verpflanzen, weil er natürlich auch sinnbildlich für Los Angeles steht. Er liebt Los Angeles. Sehen Sie, Los Angeles ist ein sehr einzigartiger Ort – selbst in meinem Land. Es gibt dort so viel Gutes und gleichzeitig so viele Probleme, auch im Vergleich zu anderen Städten. Es gibt soziale Probleme, es gibt Unruhen, es gibt geologische Probleme, es kann dort Erdbeben geben. Es ist faszinierend was in Los Angeles zwischen Mensch und Natur passiert. Ich glaube, das ist ein Grund, warum so viele Leute darüber schreiben möchten – mich eingeschlossen. Harry ist ein Teil davon und er ist so ausgelegt, dass er durch seinen Job und seiner Mission, mit den schlechten und dunklen Seiten der Stadt in Berührung kommt, er hat auch einen Blick für die guten Seiten. Sie sind es, die ihm Hoffnung geben. Seine Hoffnung für bessere Tage und für eine bessere Stadt ist ein Schlüsselelement seines Charakters.

“Es bleiben uns wohl nur noch vier oder fünf Jahre“

Dunkler als die Nachtkrimiblog.de: Schauen wir kurz auf ihre anderen Figuren. Sie haben zahlreiche Romancharaktere erfunden, ein neuer ist Mickey Haller, der Rechtsanwalt, der in einer fahrenden Limousine seine Fälle löst. Es gibt Rachel Walling vom FBI, die mit Harry zum Beispiel in “Echo Park“ zusammenarbeitet, in “A Darkness More than Night“ (2001, dt.: “Dunkler als die Nacht“, 2003) traf Harry auf Terry McCaleb, der wiederum in “Blood Work“ (1998, dt.: “Das zweite Herz“, 2000) zum ersten Mal in Erscheinung trat. Kurz: Je mehr Bücher ich von Ihnen lese, um so mehr entdecke ich eine Art Universum, in dem ihre Hauptfiguren auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden sind. Sehe ich das richtig?

Michael Connelly: Ja, ich sehe das auch so. Jedes Buch ist eine abgeschlossene Geschichte, eine interessante Geschichte und eine eigenständige Geschichte. Aber letztlich sind dies alles Geschichten und Charaktere, die sich auf der gleichen Ebene bewegen, die Teile eines Mosaiks sind. Es ist für mich wie eines dieser Bilder von Hieronymus Bosch, auf denen so viele unterschiedliche Dinge passieren, interessante oder auch verwirrende Dinge, die eigentlich nicht untereinander verbunden sind – aber sie sind im selben Bild zu sehen. Darum betrachte ich all diese Geschichten als Teile eines Bildes.

krimiblog.de: Ihr letztes in den USA veröffentlichtes Buch ist “The Brass Verdict“, in dem Mickey Haller auf Harry Bosch trifft. Zwischen beiden gibt es ja eine alte Verbindung. Können Sie mir etwas zu dem neuen Buch sagen?

Michael Connelly: Was den Aufbau des Buches betrifft, ist es etwas anders. Mickey Haller, der “Lincoln Lawyer“ (2005, dt.: “Der Mandant“, 2007) ist in dem Buch der Ich-Erzähler und Harry Bosch spielt eine wichtige Rolle in der Handlung. Aber als Leser bekommt man keinen Einblick in Harrys Gedanken. Harry sieht man diesmal mit den Augen von Mickey Haller. Mickey ist ein zynischer Strafverteidiger, weshalb er geradezu dazu prädestiniert ist, Harry sehr skeptisch zu betrachten. Ich denke, dies ist ein interessanter, neuer Blick auf Harry. Darum hat es mir auch viel Spaß gemacht, das Buch zu schreiben.

Was die eigentliche Geschichte betrifft, so übernimmt Mickey Haller die Fälle eines ermordeten Kollegen. Statt keinem Fall hat er nun plötzlich 14 Fälle zu bearbeiten. In der Zwischenzeit arbeitet Harry Bosch an einem Mordfall, der von dem ermordeten Verteidiger bearbeitet wurde. Darum kreuzen sich die Wege von Mickey und Harry. Aber die Verbindung zwischen den beiden geht viel weiter zurück – zu meinem zweiten Roman “Black Ice“ (1993, dt.: “Schwarzes Eis“, 1996). In dem Roman findet Harry heraus, wer sein leiblicher Vater ist und es gibt eine Blutverwandtschaft zwischen Harry und Mickey. Harry entdeckt sie, als er an der Beerdigung seines Vaters teilnimmt.

krimiblog.de: Im Mai 2009 soll in den USA ihr Roman “The Scarecrow“ erscheinen, dessen Figuren wir nun wiederum aus den Roman “The Narrows“ (2004, dt.: “Die Rückkehr des Poeten“, 2005) und “The Poet“ (1996, dt.: “Der Poet“, 1999) kennen.

Michael Connelly: Die Figur stammt aus “The Poet“, einer Geschichte über den Kriminalreporter Jack McEvoy, der in dem neuen Buch eine wichtige Rolle spielt. Er ist der Ich-Erzähler und er arbeitet wieder mit Rachel Walling vom FBI zusammen, die wiederum in “The Poet“, “The Narrows“ und in “Echo Park“ auftrat. Es ist also wieder einer dieser Fälle, in dem Figuren zwischen den Romanen wechseln. Ich würde es aber nicht als ein Fortsetzung von “The Poet“ sehen. Die Fortsetzung von “The Poet“ war “The Narrows“. Das neue Buch ist einfach eine Geschichte, in der dieser Reporter wieder erscheint.

krimiblog.de: Ich habe in einem früheren Interview gelesen, dass Sie irgendwann einmal Harry Bosch verschwinden lassen wollen. Wie lange wird es ihn denn noch geben? Wird er irgendwann von der Bildfläche verschwinden, wird er vielleicht irgendwann sterben?

Michael Connelly:Oh, ich hoffe, ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mehr an dieser Figur interessiert bin. Nein, diese Figur ist immer noch sehr spannend für mich. Aber als ich vor über 20 Jahren die Entscheidung getroffen habe, über diese Figur zu schreiben und die Möglichkeit erhielt, mehrere Bücher über ihn zu schreiben, habe ich beschlossen, dass er sich entwickeln muss, dass er älter wird. Damals, so um 1990, sah das wie eine gute Entscheidung aus. Jetzt, 20 Jahre später, sieht das anders aus. Harry kommt langsam an den Punkt, an dem es unrealistisch wird, dass er immer noch ein Polizeiabzeichen hat und auf der Straße Mörder jagt. Meine Zeit mit ihm als Polizist ist beschränkt, von heute an bleiben vielleicht noch vier Jahre. Das bedeutet aber nicht, dass ich aufhöre über ihn zu schreiben. Ich kann in der Zeit zurück gehen, ich kann über ihn als jungen Mann schreiben, über Vietnam, über ihn als Polizist in Uniform. Es gibt viele Dinge. Er kann auch als Privatdetektiv arbeiten, aber das ist für mich etwas enttäuschend. Denn ich liebe es, wie er als Polizist gegen die Bürokratie kämpft. Dennoch: Es bleiben uns wohl nur noch vier oder fünf Jahre.

“Der Literaturbetrieb steht vor einer wichtigen Aufgabe“

Der Mandantkrimiblog.de: Aber Harry war doch schon als P.I. – also als Privatdetektiv – unterwegs…

Michael Connelly: Ja, ich habe zwei Bücher geschrieben, in denen er als P.I. arbeitet. Doch ich merkte, dass ich dadurch etwas verloren hatte: Eben jenen Kerl, der mit der Bürokratie kämpft. Das ist ein Gedanke, der offenbar vielen Menschen und auch mir gefällt. Ich hatte das nicht bedacht, als ich ihn zum P.I. machte. Deshalb holte ich ihn zurück zur Polizei. Schließlich kämpfen wir ja alle irgendwie gegen die Mühlen der Bürokratie. Das verbindet Harry mit vielen Menschen.

krimiblog.de: Als Fan schaue ich natürlich regelmäßig auf ihre Internetseiten und Sie bieten Ihren Lesern dort sehr viel. Es gibt nicht nur eine Liste ihrer Bücher, es gibt Inhaltsangaben, es gibt “Reading Guides“, also Lektürehilfen, die für eine Diskussion Fragen vorgeben, es gibt zu den neueren Büchern kurze Videos. Ist das wichtig, um die Leser an sich zu binden?

Michael Connelly: Ich denke es ist wesentlich mehr Spaß und nicht so entscheidend für die Leserbindung. Ich habe eine Mitarbeiterin, die für mich die Internetseite betreibt und es ist ein wenig wie in meinen Büchern: Es gibt immer etwas Neues. Es soll nicht statisch werden. Und sie lässt sich immer wieder neue Dinge einfallen, die “Reading Guides“ und ähnliches. Ich bekomme dann das Lob, dass eigentlich ihr zusteht.

Die Video-Sachen bereiten mir wirklich viel Spaß. Ich glaube, alles was einem im Internet hilft, seine Bücher zu promoten, ist eine gute Sache. Schließlich sind dort die jungen Menschen. Der Literaturbetrieb steht vor einer wichtigen Aufgabe – nämlich sein Tanks wieder aufzufüllen. Die Hauptgruppe von Menschen, die Bücher kaufen, werden immer älter. Das ist eine demographische Entwicklung. Alles, was junge Menschen dazu bringt, Bücher zu lesen und natürlich auch meine Bücher zu lesen, möchte ich ausprobieren. Vielleicht klingt das jetzt egomanisch , aber ich glaube daran, dass ich einen Jugendlichen, der zum Beispiel mein Buch “The Poet“ liest, dadurch auch bewegen kann, andere Bücher zu lesen. Entscheidend ist doch, wie ich einen Jugendlichen überhaupt dazu bekomme, ein Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen. Denn in der heutigen Gesellschaft stehen Bücher bei Jugendlichen nicht unbedingt an erster Stelle.

krimiblog.de: Nutzen Sie als Autor das Internet auch für die Recherche?

Michael Connelly: Ja, gerade jetzt, wo ich nicht mehr in Los Angeles lebe. Ich fahre zwar oft dorthin, um vor Ort zu recherchieren. Aber ich schreibe auch viele E-Mails an Polizisten, ich benutze Google. Ich habe auch einen freien Rechercheur, einen Freund, der für mich arbeitet, wenn ich sehr viel über eine bestimmte Sache in Erfahrung bringen möchte. Ich habe einfach nicht die Zeit, alles selbst zu prüfen. So bitte ich ihn zum Beispiel möglichst alles darüber herauszufinden, wie das FBI Projektile identifiziert. Er verbringt dann viel Zeit damit, schafft die Informationen heran und bereitet sie so auf, dass ich sie weiterverarbeiten kann. Dadurch wird mein Schreibfluss nicht ausgebremst. Innerhalb von wenigen Stunden kann ich mir dann einen guten Überblick verschaffen. All das funktioniert und läuft über das Internet. Es ist auf allen Ebenen sehr wichtig für mich: Für das Schreiben, für die Recherche und für die Werbung.

krimiblog.de: Sie haben so viele Charaktere entwickelt. Wird es noch einen neuen geben, von dem wir noch nichts ahnen?

Michael Connelly: Meine meisten “neuen“ Figuren sind als Testfiguren konzipiert. Sie spielen oft zunächst nur eine Nebenrolle in einem Buch, zum Beispiel in einem Bosch-Roman. Momentan denke ich nicht daran, ein Buch mit einer völlig neuen Hauptfigur zu schreiben. Ich mag die Figur der Rachel Walling sehr und ich überlege, einen Roman zu schreiben, in dem sie im Mittelpunkt steht. Wenn ich die richtige Idee finde, wird es dieses Buch geben. Aktuell schreibe ich an einem Roman – ein Harry-Bosch-Roman – der Ende des Jahres in den USA erscheinen soll. Darin wird Harry dazu angehalten, mit einem Ermittler aus der “Asian Crime Unit“ zu arbeiten, und diese Figur mag ich sehr. Wenn das beim Schreiben gut läuft, wird dieser Ermittler vielleicht in einem späteren Buch im Mittelpunkt stehen. Aber mal sehen, den letzten, den ich erfunden habe, ist Mickey Haller.

krimiblog.de: Schreiben Sie, wenn Sie auf Lesetour sind?

Michael Connelly: Dann kann ich in einem begrenzten Maße schreiben. Ich war heute zum Beispiel vier Stunden mit dem Zug unterwegs, davon habe ich etwa drei Stunden geschlafen. Eine Stunde lang habe ich ein Manuskript korrigiert – eben jenes neue Harry-Bosch-Buch, das ich eben erwähnt habe. Es ist lustig, vielleicht liegt es am Alter. Ich konnte überall schreiben: im Flugzeug, im Zug, im Auto. Ich konnte mich abschotten und lies mich nicht ablenken. Aber da bin ich nicht mehr so gut drin. Ich lasse mich mehr ablenken. Vielleicht werde ich auch etwas bequemer, weil ich nicht mehr die Arbeit habe, die ich früher hatte. Auf Reisen, gerade wenn ich von Stadt zu Stadt reise, ist es schwierig, wirklich ernsthaft etwas zu Papier zu bringen.

krimiblog.de: Vielen Dank für das Interview!

Michael Connelly: Oh, ich dachte da kommt noch eine Frage. Sie haben mich nach all den Themen zum Internet befragt und ich dachte, Sie würden mich fragen, warum in meinen Büchern das Internet der Ort ist, in dem die Bösen herumhängen?

krimiblog.de: Ja, das ist eine interessante Frage…

Michael Connelly: (lacht) Na, ich habe doch keine Antwort darauf. Ich mag Dinge und Ideen, die die Welt verändern. Das Internet ist wohl die größte Erfindung in den letzten 100 Jahren, sagen zumindest einige Leute. Das mag ja alles richtig sein und es ist eine sehr positive Erfindung. Aber ich mag es darüber zu schreiben, wenn und wie sich positive Dinge in etwas Dunkles verwandeln, in etwas Negatives. Es gibt diese Bücher, die immer warnen “Oh, das Internet ist nicht wirklich so toll“. Nein, das Internet ist schon toll, aber es hat seine dunklen Seiten. Das ist ein Grund, warum ich es immer wieder aufgreife. Im neuen Buch “The Scarecrow“ wird es darum gehen – Internetkriminalität.

krimiblog.de: Sie haben ja gesagt, dass Sie Ihre Internetseite nicht selbst betreuen. Also werden wir Michael Connelly auch nie twittern sehen?

Michael Connelly: Twitter wird in “The Scarecrow“ auftauchen. Deshalb überlegt meine Internet-Mitarbeiterin, ob ich nicht während der Buchtour für das Buch twittern soll. Schließlich nutzt eine der Figuren Twitter. Es gibt viele gute Dinge, wie Twitter oder Facebook, die Kommunikation ermöglichen. Aber es gibt eben auch die Leute mit einer gestörten Persönlichkeit, die dort rumhängen und Dinge gegen Dich verwenden können. Sie können Dich finden – und darum geht es in diesem Buch. Was mich betrifft, weiß ich es noch nicht. Worüber soll ich twittern, wenn ich auf Tour bin? “Bin gerade aus dem Flugzeug gestiegen.“ Wen interessiert das?

Meine Internetseite sehe ich zwar als ein Mittel, um mit Menschen in Kontakt zu kommen und umgekehrt für Leser, die mit mir in Kontakt kommen möchten und Fragen haben. Aber sie ist auch ein Puffer. Ich habe dort keine eigene E-Mail, alles kommt über die Seite und ich habe die Möglichkeit, auszuwählen wie und ob ich reagieren möchte.

krimiblog.de: Vielen Dank für das Interview, Mr. Connelly!

Michael Connelly: Vielen Dank.

Aktuelle Bücher Michael Connelly in deutscher Übersetzung (Auswahl)

Michael Connelly: Echo Park / Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. – München : Heyne, 2008
ISBN 978-3-453-26560-8
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Michael Connelly: Kalter Tod / Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. – München : Heyne, 2008
ISBN 978-3-453-43342-7
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Michael Connelly: Der Mandant / Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. – München : Heyne, 2007
ISBN 978-3-453-01434-3
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Michael Connelly: LA crime report / Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. – München : Heyne, 2007
ISBN 978-3-453-81095-2
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