Das Zentralorgan der Krimikritik

vom Krimiblogger

Ich hatte es ernsthaft in Erwägung gezogen. Einen “Verein“ für Krimikultur – warum eigentlich nicht. Vergiss für einen Moment, was so in den letzten Monaten passiert ist. Schließlich geht es um Krimikultur. Dafür hample ich auch schon seit über zehn Jahren im Netz und auf diversen Veranstaltungen herum. Mal mehr, mal weniger. Doch dann trifft mich → dieser Text wie ein Faustschlag:

“Das ist die herrschende Krimikultur. Mediales Getöse, kenntnislos entfachter Hype, um „das Genre“ aus seiner üblichen Elend des Durchschnittlichen zu heben, hernach von billiger Entrüstung gespeiste Versuche, alles was sich über den Durchschnitt erhebt oder propagandamäßig über ihn erhoben wurde, wieder auf das nivellierende Normalmaß zu drücken. Es gibt Krimikultur, die sich gegen diese Praxis sträubt, wenn überhaupt, dann nur als solistische Veranstaltung, unterbrochen von einigen gewiss lobenswerten Gemeinschaftsaktionen, die aber, weil auch sie letztlich zu solistischen Leistungen werden müssen, nicht viel bewirken.“

Wenn ich zurückschaue auf etwa zehn Jahre, dann kann ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Wertung in der Reihenfolge – sehen (und zum Teil habe ich einiges selbst erlebt und einige der Menschen, die sich damit beschäftigen, getroffen): KrimiWelt-Bestenliste und die dazugehörigen Besprechungen in verschiedenen Zeitungen und bei verschiedenen Radiostationen, Fernsehporträts von Gohlis und Schöne beim ZDF Infokanal, Tagungen zum Thema in Schwerte, Iserlohn und Genshagen, literaturwisschenschaftliche Arbeiten zum Beispiel von Prof. Jochen Vogt, ungezählte Krimifestivals, kaliber38.de, alligatorpapiere.de, krimi-couch.de, krimi-forum.de, krimilexikon.de, einige Blogs zum Thema, Wörtches Buch “Das Mörderische neben dem Leben“, das leider eingestellte Krimitagebuch von Robert Schekulin, Krimirezensionen in verschiedenen Medien, das Syndikat, das Bochumer Krimiarchiv, das Bonner Krimiarchiv von Thomas Przybilka. Diese Liste ließe sich noch einige Absätze lang fortsetzen. Ich empfehle Ihnen da einfach mal den Realitätscheck: Klicken Sie ins → Archiv der “Alligatorpapiere“. Der älteste Beitrag, den ich dort gefunden habe, stammt vom Mai – Juni 2001. Dort finden sich für drei Monate (!) etwa 30 Meldungen über Kritiken, Informationen und Veranstaltungen rund zum Thema Krimi. So viele Meldungen bekommt Alfred Miersch, der die Seite seit dem betreibt, heute an einem Tag, vielleicht auch zwei guten Tagen zusammen.

Damals, als es zwei Deutschlands gab

Sind das alles “solistische“ Veranstaltungen? Man mag ja über die Qualität der einzelnen Angebote munter streiten, aber zu behaupten, dass die derzeitige Krimikultur hauptsächlich aus “medialem Getöse“ besteht, ist schlichtweg Unsinn und ein Schlag ins Gesicht der Leute, die sich öffentlich seit vielen Jahren – einige durchaus länger als Dieter Paul Rudolph – mit großer Begeisterung und mit viel Sachverstand dem Thema Kriminalliteratur widmen. Kriminalliteratur und ihre kritische Betrachtung hat in den letzten zehn Jahren zugenommen. Und diese Auseinandersetzung wird sehr wohl auch von einem größeren Publikum wahrgenommen. “Mehr“ kann man sich natürlich immer wünschen und eine Stärkung der inhaltlichen Qualität selbstverständlich auch.

Was mich an dem aktuellen Text von Dieter Paul Rudolph allerdings noch mehr erschreckt, als jener verstellte und offenbar arg egozentrische Blick auf die Wirklichkeit, ist unter anderem die Forderung nach einer “gemeinsam geschaffenen Krimikultur“. Kultur als zentralistische Veranstaltung, Kritik einem strengen Formalismus untergeordnet, die offenbar ein höheres Ziel anzustreben hat und den Krimi als Ausdruck gemeinsamer Kultur degradiert. Hatten wir das in Deutschland nicht schon mal – damals, als es zwei Deutschlands gab? Und wollen wir das wirklich wieder haben? Die zunehmende Stärke der Krimikultur im deutschsprachigen Raum liegt doch genau im Gegenteil dessen, was Dieter Paul Rudolph vorschwebt: inhaltliche, qualitative und formale Vielfalt. Ein Einzelner kann doch nicht hergehen und Lesern, Autoren und Kritikern vorschreiben, wie Kriminalliteratur und die kritische Auseinandersetzung mit ihr zu seien hat. Es ist schon schlimm genug, dass immer mehr Kulturjournalisten und Literaturwissenschaftler sich zum Beispiel über die Amateure im Internet mokieren, von → User-generated Nonsense faseln und gar – sehr demokratisch – Verbote fordern. All diesen Kulturpessimisten sei ein gelassenerer Umgang mit jenem “Nonsens“ empfohlen und vor allem das Kehren vor der eigenen Türe. Wenn mir mein Publikum in Scharen weg läuft, dann könnte Selbstkritik an meinem Tun und Handeln vielleicht gar nicht so verkehrt sein. Ich jedenfalls lebe und lese lieber mit einigem Unsinn um mich rum, als mit zentral gesteuerten “Krimi-Kritik-Vorgaben“, die mir sagen, wie ich zu lesen, zu kritisieren, zu argumentieren und vor allem zu denken habe.

Dieter Paul Rudolph hat andere Vorstellungen. Eine Horrorvision:

“Eine neue Krimikultur würde also dort ansetzen, wo noch keine Bilder entstanden sind, wo noch Bewegung möglich ist. Sie wäre auch mehr als eine reine special-interest-Liebhaberei. Denn wir reden hier über die inneren Werte des Produkts Krimi, über das, was es im Guten wie im Bösen in die Welt setzt, die es beschreibt und von der es gleichzeitig erschaffen wird. Wir reden über die Degradierung einer Literatur zum Profitfaktor, zum Sinnverderber, zum desensibilisierenden Narkotikum – und wir reden über das, was Krimi auch ist: ein Beschreibungs- und Erkenntnismedium, Lieferant verborgener Informationen und Strukturen. “

Mal davon abgesehen, dass es unmöglich ist, mit einer Kritik dort anzusetzen, wo noch nichts existiert – Objekte einer kritischen Auseinandersetzung müssen schon vorhanden sein und sobald sie existieren generieren sie auch Bilder in unseren Köpfen – sind einige Formulierungen arg verräterisch. Wer den Krimi schon mit seinen eigenen Worten als “Produkt“ klassifiziert – war sicher ironisch gemeint, gell – sollte sich über die “Degradierung“ der Literatur zum Profit eigentlich nicht mehr wundern. Selbstverständlich ist Kriminalliteratur auch immer entstanden, um mit ihr Geld zu verdienen. Darin liegt eine ihrer Wurzeln. Hinzu kommt der “Makel“, dass Kriminalliteratur nach wie vor hauptsächlich als Unterhaltung angesehen wird. Kriminalliteratur hat und hatte aber immer beide Seiten – das Eskapistische und das Realistische. Den meisten Lesern sagt vermutlich das eskapistische Element mehr zu, es bedeutet aber nicht, dass realistische Aspekte – der Krimi als Gesellschaftsroman, als Sensor für gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen, als Spiegel von menschlichen Beziehungen – völlig ausgeblendet würden. Über die ästhetische Umsetzung dieses Spannungsverhältnisses kann man im Einzelfall viel und lange streiten, genauso über die Wertung und Gewichtung dieser beiden Kräfte. Wer sich etwa an den Soziokrimi der 1970er Jahe erinnert, weiß, dass es in Deutschland durchaus eine sehr starke Tendenz zum “realistischen“ Kriminalroman gegeben hat.

Vielfalt statt Zentralismus

Über die künstlerische Umsetzung, über Plot, Sprache, Dramaturgie oder Figurenzeichnungen lässt sich munter diskutieren – und das wird ja auch glücklicherweise getan. Vielleicht nicht immer auf dem Niveau, das den selbsternannten Heilsbringern der Krimikritik vorschwebt, aber es wird sich rege ausgetauscht. Dafür braucht es keine “Bündelung der Kräfte“. Wollen wir wirklich ein Zentralorgan der Krimikritik, womöglich verantwortet von Dieter Paul Rudolph? Diese Forderung ist so absurd, als würde man alle Zeitungen, Zeitschriften und Magazine einstampfen und nur noch ein Zentralorgan für Literaturkritik zu lassen. Nur noch eine Zeitung für den Sport, ein Magazin für Politik, eine Radiosendung für Musikkritik? Ein kultureller Alptraum.

Doch die Absurdität geht noch weiter. Über weite Abschnitte des Textes tut der Autor nichts anderes, als sein Bild der “Krimikultur“ im düsteren Grau auszumalen und zu zementieren und sich vor allem von all den “solistischen“ Veranstaltungen abzugrenzen. Und dann dieser Satz:

“Krimikultur ist nichts, was per Akklamation definiert wird, sie ist ein ständiger Prozess, der Versuch auch, Plattformen zu schaffen, ins Gespräch zu kommen, Dinge zu ermöglichen, die nur eine Gruppe von Menschen ermöglichen können.“

Wie eine solche Diskussionskultur aussieht, → konnten einige Mitstreiter und → Autorinnen schon erleben. Von seinen Ausfällen gegen die stumpfe Leser mal ganz abgesehen. Wenn es etwas gibt, dass Dieter Paul Rudoph sicher nicht sucht, dann ist es das offene Gespräch.

Insgesamt alles recht deprimierend also. Dabei gibt es gerade beim Thema Kriminalliteratur eher einen Grund, positiv auf das zu schauen, was sich in seiner ganzen Bandbreite und Vielfalt in den letzten zehn Jahren getan hat. Natürlich ist weiterhin viel zu tun. Vermutlich – ich bin kein Hellseher – wird sich Vieles ins Internet verlagern. Mit allen Vor- und Nachteilen. Ein Krimimagazin, wie es Dieter Paul Rudlph unter anderem ja auch vorschwebt, wird es womöglich nie geben. Ob das nun tragisch ist oder doch eher ein Glücksfall, mag jeder selbst entscheiden. Fakt ist, einige der traditionellen Printmagazine wurden in den letzten Jahren eingestellt – in den USA etwa der “Armchair Detective“ – oder sind ins Internet abgewandert, wie etwa die britsche “Crime Time“. In Zeiten, in denen immer mehr klassische Zeitungen, Zeitschriften und Magazine ums Überleben kämpfen, dürfte es wohl schwierig sein, ein solches Magazin auf den Markt zu bringen. Zumal es bereits einige Versuche in den letzten Jahren gegeben hat. Auch das ist etwas, was Dieter Paul Rudolph gerne ausblendet.

Fakt ist allerdings auch, dass es durchaus lebhafte Krimikritik außerhalb des Internets gibt. Oft fundiert, manchmal eher oberflächlich, gelegentlich auch arg dümmlich. Kultur eben. Die lebt von Vielfalt und nicht von den “gebündelten Kräften“ eines Zentralorgans.