Das alte Europa und die neue Welt

vom Krimiblogger

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Andrew Taylor: Der Schlaf der Toten

Legenden ranken sich um das Leben des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe (1809-1849). Zahlreiche Biografen haben versucht die Lücken in Poes Lebenslauf zu füllen. Wenig ist etwa über Poes Kindheit bekannt, die er von 1815 bis 1820 in Schottland und England verbrachte. Noch geheimnisvoller erscheint bis heute sein Verschwinden kurz vor seinem Tod. Wo sich Poe zwischen dem 26. September 1849, als er in Richmond verschwand, und dem 3. Oktober 1849, als er schwer krank in Baltimore vor einem Wahllokal gefunden wurde, aufgehalten hat, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Nur kurze Zeit später, am 7. Oktober 1849, starb Poe in einem Krankenhaus in Baltimore, zuvor war er in ein Delirium gefallen.

Lücken, Rätsel und Geheimnisse – genügend Stoff also, um sich in Spekulationen zu ergehen. Der englische Autor Andrew Taylor hat sich dieser Lücken angenommen und einen gut 570 Seiten dicken Roman mit dem Titel „Der Schlaf der Toten“ verfasst, der auf den ersten Blick als eine Mischung aus historischem Kriminalroman und schwülstiger Liebesgeschichte erscheint und in dem der junge Edgar Allen Poe nur eine Nebenrolle einzunehmen scheint.

Doch zuvor ein paar Fakten: Zeitlicher Ausgangspunkt von Taylors Roman ist das Jahr 1819, das letzte Jahr, das Edgar Allan – damals 10 Jahre alt – in England verbrachte. Sein Pflegevater, der Geschäftsmann John Allan, ermöglichte dem jungen Edgar während seines Aufenthalts im Königreich den Besuch von Privatschulen, zunächst im schottischen Irvine, dann im Londoner Stadtteil Chealsea und vermutlich 1818 wurde Edgar schließlich Schüler an der „Manor House School“, die von Reverend John Barnsby geleitet wurde. Die Schule lag in Stoke Newington, etwa 5 bis 6 Kilometer vom Londoner Zentrum entfernt. Literaturgeschichtlich ein bemerkenswerter Ort, denn nicht nur Edgar Allan Poe hat hier etwa zwei Jahre verbracht und seinem Schulaufenthalt mit der Erzählung „William Wilson“ ein biografisch gefärbtes Denkmal gesetzt, auch der englische Dichter Daniel Defoe hat hier – rund hundert Jahre früher – gelebt und unter anderem seinen Roman „Robinson Crusoe“ verfasst.

In Stoke Newington beginnt Taylors Roman. Erzählt wird er von dem (fiktiven) Hilfslehrer Thomas Reynolds Shield, der an der Schule des Reverends Barnsby unterrichtet. Shield war einst Soldat und leidet nach seiner Kriegserfahrung an einem – wie wir es heute nennen würden – posttraumatischen Stresssyndrom. Verarmt und unter den psychischen Folgen des Krieges leidend, nimmt er dankbar die Stellung bei Barnsby an. Er wird nicht nur der Lehrer des jungen Edgar Allan, sondern auch von Charles Frant, Sprößling eines wohlhabenden Bankiers. Henry Frant, ein unsympathischer und undurchsichtiger Charakter, ist Teilhaber der Wavenhoe-Bank, die gute Kontakte nach Amerika unterhält. Als der andere Teilhaber der Bank, der alte George Wavenhoe, stirbt, gerät die Bank in wirtschaftliche Turbulenzen und steht schließlich vor dem Aus.

Sprachlicher Balanceakt

The American BoyGläubiger setzen Henry Frant zu und nur kurze Zeit später wird in einem Londoner Neubaugebiet, der Wellington-Siedlung, eine grausam zugerichtete Leiche entdeckt. Da der Tatort nicht weit von der Schule in Stoke Newington entfernt liegt, wird Thomas Shield zur Leiche gerufen, um sie als Henry Frant zu identifizieren. Schon bald stellen sich bei dem Hilfslehrer jedoch Zweifel ein. War der Tote wirklich der verschuldete Bankier oder hat Frant seinen Tod nur vorgeschoben, um seinen Gläubigern zu entkommen? Könnte es sich bei dem Toten nicht auch um den geheimnisvollen Mann handeln, der Edgar und Charles verfolgt hat und der vorgibt, Edgars verschwundener Vater David Poe zu sein?

Shield stellt Nachforschungen an, die ihn in die übelsten und gefährlichsten Gegenden von London führen. Gleichzeitig wird seine Liebe zu der verwitweten Sophia Frant immer stärker. Als Lehrer, der Charles und Edgar während der Weihnachtsferien betreuen soll, wird er auf den Landsitz von Stephen Carswall, einem Cousin des verstorbenen George Wavenhoe, beordert, wo sich die Familien Frant und Carswall versammelt haben. Er ist nicht nur Sophia nah, er kann auch weitere Ermittlungen über den angeblich ermordeten Henry Frant anstellen. Die winterliche Idylle wird jedoch jäh zerstört, als es einen weiteren Toten gibt.

Taylors Roman liest sich zunächst wie die Adaptation eines viktorianischen Sensationsromans. Ein großes Ensemble an Figuren, zu dem neben Edgar Allen Poe auch ein amerikanischer Geschäftsfreund und dessen schwarzer Diener sowie englischer Landadel und zahlreiche Bedienstete gehören, bevölkert den Roman. Vordergründig entspinnt Taylor eine tragische Liebesgeschichte mit Intrigen, Neid und Familiengeheimnissen. Dazu ein mysteriöser Kriminalfall, der durchaus spannend zu lesen ist und vor allem im letzten Teil des Buches so manchen Schauereffekt bereit hält. Sprachlich unternimmt Taylor dabei einen Balanceakt: Einerseits versucht er sich dem Sprachstil der Zeit zu nähern, andererseits den Roman damit nicht zu überfrachten. Dies ist ihm durchaus gelungen, wobei die deutsche Übersetzung im Vergleich zum englischen Original etwas gelitten hat.

Rätsel: Rabe oder Papagei?

The American BoyDoch Andrew Taylor ist auch ein Autor, der Erzählebenen übereinander legt, wie er es zum Beispiel in seiner „Roth Triologie“ glänzend bewiesen hat. „Der Schlaf der Toten“ kann auch als ein fesselndes, literarisches Rätsel gelesen werden. Womit ich zu Edgar Allen Poe zurückkehre, der mehr ist als nur eine Randfigur. Nicht nur, das der junge Poe der Geschichte einen Rahmen gibt, Taylor erfindet ihm auch eine fiktive Kindheit. Welche Einflüsse mögen Poe zu seinen düsteren Geschichten und zu seinen rätselhaften Gedichten getrieben haben? Taylor versucht nicht, platte Antworten auf diese Frage zu finden, er deutet an, – hier eine literarische Anspielung, dort eine reale Begebenheit – und formt dies zu einem komplexen, mehrdeutigen Text. Einiges ist offensichtlich, wie zum Beispiel ein Papagei, der in dem Roman eine Rolle spielt und der immer wieder „Ayez peur“ („Fürchtet Euch“) vor sich hin plappert. Eine Anspielung auf Poes berühmten Raben und sein „Nevermore“. Taylor weist in einem Nachwort daraufhin, dass Poe für sein Gedicht „The Raven“ ursprünglich einen Papagei vor Augen hatte. Anderes kommt eher versteckt daher, etwa Edgars Ähnlichkeit mit seinem Freund Charles, was auf das Motiv des Doppelgängers weist, das sich auch in Poes Werk wiederfindet.

Auch aus historischer Sicht ist der Roman interessant, denn Taylor lässt das alte Europa auf die neue Welt treffen. Die damalige Weltmacht England, mit ihrem Standesdünkel, ihren starren Hierarchien und ihrem imperialen Auftreten, wird mit dem damals recht unbedeutenden Amerika und seiner neuen Lebensart konfrontiert. Nicht zufällig wird der amerikanische Geschäftsfreund der Familie Carswell von einem Schwarzen begleitet. Diese politischen, gesellschaftlichen und biografischen Hintergründe hat Taylor sehr fein mit seiner vordergründigen Liebes- und Kriminalgeschichte verwoben und nicht immer sind sie sofort erkennbar. Eine genaues Hinschauen lohnt sich bei „Der Schlaf der Toten“ auf jeden Fall, denn Taylor wartet mit einigen Überraschungen – jenseits des eigentlichen Plots – auf. Um so unsinniger erscheint da der moderne Begriff „Thriller“, der dem Roman zum Teil aufgedrückt wurde. „Der Schlaf der Toten“ ist kein actiongeladener, schneller Roman, er ist ein fein gesponnenes, vielschichtiges und prächtiges Kunstwerk, das erschlossen werden will. Ein raffiniertes und ausgeklügeltes Rätsel, über das sich Edgar Allan vielleicht sogar gefreut hätte.

Andrew Taylor: Der Schlaf der Toten / Aus dem Englischen von Monika Koch. – München : Goldmann, 2005
ISBN 3-442-46080-8
ISBN 13: 978-3-442-46080-9

Originalausgabe: Andrew Taylor: An American Boy. – London : Flamingo, 2003. – ISBN 0-00-710961-X
In den USA ist das Buch unter dem Titel „An Unpardonable Crime“ erschienen.

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Bibliografie & Links:

Zu Edgar Allan Poe:

Wer Poe nicht im Original lesen möchte, dem sei als deutsche Ausgabe die Übersetzung von Arno Schmidt und Hans Wollschläger empfohlen, die zunächst 1966 als vierbändige Ausgabe im Walter-Verlag, Olten, erschienen ist und mehrere Nachauflagen, unter anderem auch als zehnbändige Taschenbuchausgabe bei Pawlak, Herrsching, erlebte. Zuletzt wurde sie 1999 bei Haffmans in Zürich wieder aufgelegt. Leider sind alle Ausgaben vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Informationen über die englischen Ausgaben hält die →Edgar Allan Poe Society in Baltimore auf ihrer Webseite bereit.
Die → Arno-Schmidt-Referenzbibliothek hält einige Werke von Edgar Allan Poe als → PDF-Dokumente bereit.

Als die immer noch wichtigste Biografie über Poe gilt diese:
Arthur Hobson Quinn : Edgar Allan Poe : A Critical Biography. – New York: D. Appleton-Century, 1941.
Dieses Standardwerk erlebte mehrere Neuauflagen und ist immer noch →lieferbar.

Als deutsche Biografien seien erwähnt:
Frank T. Zumbach: Edgar Allan Poe. – München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999
ISBN 3-423-31017-0
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Wolfgang Martynkewicz: Edgar Allan Poe. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 2003
ISBN 3-499-50599-1
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Zu Andrew Taylor:

→ Homepage von Andrew Taylor
→ Special und Interview zum Buch „Der Schlaf der Toten“ auf randomhouse.de