„Mit Kriminalromanen hat man angefangen, das Wichtige erscheint später“

vom Krimiblogger

Ein Interview mit dem Hamburger Autor Frank Göhre
Von Ludger Menke

krimiblog.de: Friedrich Glauser und Frank Göhre: Sie haben beide die gleichen Initialen, sie sind beide Autoren von stilbildenden Kriminalromanen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es noch zwischen Glauser und Göhre?

Frank Göhre: Das habe ich mich auch oft gefragt. Ich bin bis heute noch nicht ganz hinter das Geheimnis gekommen. Ich kann nur sagen, was mich vom ersten Moment angezogen hat: Das war die Suche nach Glück und seine Drogengeschichte. Nicht, dass ich ein Junkie bin, aber ich habe natürlich auch meine Süchte, meine Sehnsüchte. Meine Suche – wie bei Glauser – nach Anerkennung, angenommen zu werden, geliebt zu werden. Das sind die Momente, in denen ich ihm sehr nahe bin. Das ist etwas, was ich auch bei mir feststelle. Dieses Umtriebige des Glausers habe ich in gewisser Weise auch. Obwohl ich jetzt schon seit über 25 Jahren hier in Hamburg wohne, zieht es mich immer wieder weg. Auch ich halte es nicht ständig an einem Platz aus. Meine Frau sagt inzwischen, am wohlsten fühlst Du dich, wenn Du auf Reisen bist – und das stimmt.

Dies sind so einige Eckpunkte, die ich nennen kann. Beim Schreiben ist es etwas, was mich bei ihm fasziniert, was ich nicht kann, was ich bewundert – das ist sein Umgang mit Atmosphäre und Atmosphäre zu schildern. Das versagt sich mir. Ich kriege das einfach nicht aufs Papier. Ich bewundere das. Ich mache es vielleicht auf eine andere Art. Aber die Bilder, die er da findet, die sicher auch geprägt sind durch Drogen – das muss man dann einfach auch sagen. Ich kenne so etwas aus früheren Drogenerfahrungen, dass man so ganz bestimmte Formulierungen findet, die einem plötzlich einfallen, die auf einmal da sind. Diese bewundere ich bei ihm.

Sonst weiß ich keine Gemeinsamkeiten, außer, dass wir beide Kriminalromane schreiben – er geschrieben hat und ich schreibe – und das, was ich in dem Buch „MO“ zum Schluss zitiert habe: „Mit Kriminalromanen hat man angefangen, das Wichtige erscheint später“. Das hoffe ich bei mir ja auch immer noch. (lacht)

krimiblog.de: Der Friedrich Glauser gilt als eine Art Vaterfigur des deutschsprachigen Kriminalromans. Aber eigentlich ist er von seiner Person her kein Vater – das wird in Ihrem Roman „MO“ ja auch noch einmal ganz deutlich. Er ist ein Getriebener, ein unruhiger Geist.

Frank Göhre: Ich glaube, die Vaterfigur bezieht sich eher auf seine Figur des Wachtmeisters Studer, nicht auf Glauser. Ich bin der Überzeugung, dass die meisten, oder sagen wir mal 80 Prozent der deutschen Krimiautoren, die heute schreiben, eigentlich überhaupt keine Vorstellung davon haben, wer der Glauser gewesen ist. Sie kennen bestenfalls den Wachtmeister Studer als Figur – das ist es. Außerdem die Tatsache, das er eigentlich der erste deutschsprachige Autor ist – jedenfalls der jüngeren Zeit, des 20. Jahrhunderts – der Kriminalgeschichten geschrieben hat. All das macht ihn zur Vaterfigur, deshalb sagt man „Vater des deutschsprachigen Kriminalromans“.

Natürlich gab es vor Glauser Kriminalromane und Kriminalnovellen. Es geht weit zurück – bis zu Schiller und anderen. Nur: Was Friedrich Glauser Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum begonnen hat – damit hat er einen Anfang gemacht. Dürrenmatt ist von ihm ganz stark beeinflusst gewesen, als nächster dann. Glauser selbst ist eher von Simenon und der Maigret-Figur beeinflusst gewesen.

Das die Vereinigung der deutschsprachigen Kriminalautoren ihn zu ihrem Schutzpatron gemacht hat, hängt damit zusammen. Ich habe damals, als ich das „Syndikat“ mit gegründet habe und auch noch im „Syndikat“ war, mal einen Vortrag über Glauser gehalten. Dann war da die Suche nach einem Namen für den Krimipreis. Man hat dann gesagt: „Nimmt mal den Glauser.“ – Es leuchtet allen ein, weil er eine Figur wie den Wachtmeister Studer, der damals wieder populär wurde, gesetzt hat und das klingt möglicherweise bei den Lesern an. Um an den Anfang der Frage zu kommen: Ich glaube nicht, dass es die Person Glauser ist, sondern es ist der Studer und was er verkörpert.

„Eine wunderbare Arbeit“

krimiblog.de: Sie haben eben schon die Beschreibung von Atmosphäre bei Glauser erwähnt. Gibt es da Einflüsse oder Analogien zu ihrem eigenen Werk?

Frank Göhre: Es gibt eine. Ich habe angefangen mit Jugendromanen, die im Ruhrgebiet spielen. Der letzte, „Schnelles Geld“, hatte kriminalistische Einschläge und ist als Krimi verstanden worden – auch damals schon. Dann war ich in der Heide als Stadtschreiber und habe dort den Glauser zum ersten Mal gelesen. Da tauchte bei mir die Idee auf – es war so 1980, 1981 – , dass ich so etwas Ähnliches schreiben möchte, wie der Glauser es geschrieben hat. Nämlich einen Kommissar, der in der Heide angesiedelt ist und ihn Fälle auf dem Land lösen zu lassen. Ich habe in der Heide die Jan-Broszinski-Figur, die später in meinen Romanen auftaucht, kreiert.

Meine ursprüngliche Idee war diesen Broszinski, der wie ich aus Bochum in die Heide nach Soltau versetzt wurde, auf dem Land arbeiten zu lassen. Mit diesem Konzept bin ich zu dem damaligen Herausgeber des Rowohlt-Verlages, (Richard) Flesch, gegangen. Und der Flesch sagte: „Das ist ja schön und gut, aber Geschichten auf dem Land finde ich eher langweilig. Sie leben doch jetzt hier in Hamburg, lassen Sie sich doch was einfallen, wo dieser Mann hier in Hamburg ermitteln kann. Die Figur finde ich großartig, daraus sollte man was machen.“

Ich habe dann meine erste Idee beiseite gelegt und mit der Kiez-Triologie begonnen. Es gibt allerdings einen Roman, den ich später geschrieben habe, in dem ich praktisch eine Glauser-Figur in den Roman mit hinein genommen habe, und zwar den Roman „Letzte Station vor Einbruch der Dunkelheit“. Da taucht ein Motorradfahrer namens Kählin auf und der hat Ähnlichkeiten mit einer Glauser-Figur. Er erzählt etwas, was auch der Glauser erzählt. Diese Geschichte spielt auch auf dem Land, in den 50er Jahren. Aber das ist die einzige Annäherung, die ich versucht habe. Ursprünglich war die Idee, so etwas Ähnliches wie der Glauser in der norddeutschen Heide zu schreiben.

krimiblog.de: Sie haben es erwähnt, der Friedrich Glauser begleitet Sie nun schon sehr lange. 1988 erschien der Bildband „Zeitgenosse Glauser“ und nun – gut zwanzig Jahre später – „MO“ der Lebensroman. Sie kommen nicht los von ihm, oder?

Frank Göhre: Nö. Das geht seit 1980. Die Herausgabe der Bücher von Glauser im Arche-Verlag, die ich mit Nachworten versehen habe, und später das Buch „Zeitgenosse Glauser“ – das war für mich eine wunderbare Arbeit. Ich habe versucht, sein Leben als Collage zusammenzustellen, soweit es das Bildmaterial, das damals im Arche-Verlag lag, teilweise aber auch in Bibliotheken neu herausgesucht werden musste, ermöglichte – zusammen mit den autobiografischen Äußerungen Glausers und den entsprechenden Passagen aus den Romanen. Der Leser sollte eine Monografie haben, bei dem er eigene Texte von Glauser liest. Ich habe sehr sparsame Zwischentexte zu den Bildern geschrieben. Damit – dachte ich eigentlich – ist die Geschichte zu Ende.

Dann aber war zur gleichen Zeit die zweibändige Biografie von Gerhard Saner erschienen und Bernhard Echte begann mit der Herausgabe der großen Werkausgabe beim Limmat- und beim Unionsverlag. Dadurch habe ich immer mehr und auch neues über Glauser erfahren. Und die Biografie von Saner war – und ist es immer noch – für mich unlesbar. Sie ist zwar vollgepfropft mit Wissen und Hinweisen, ist aber in einer Form geschrieben, bei der man sich wirklich durchquälen muss. Man muss viel Geduld und Liebe aufbringen, um sie durchzulesen. Saner ist halt Literaturwissenschaftler, der Friedrich Glauser vor dem literaturwissenschaftlichen Hintergrund sieht.

Ich habe immer gesagt: Eigentlich fehlt ein Buch, dass es dem normalen Leser ermöglicht, sich mit der Person Glauser anzufreunden und neugierig zu werden auf das, was er geschrieben hat. Einen Roman, eine Erzählung als Einstieg zu geben für das Leben von Glauser. Das war mein Anspruch. Ich wollte diese Lücke schließen, wo mittlerweile auch diese Form hinlänglich bekannt ist. Es gibt zum Beispiel mehrere Arbeiten im Französischen. Über (Arthur) Rimbaud habe ich etwas gelesen, da hat ein französischer Autor über die letzten Lebenstage von Rimbaud geschrieben hat – als Fiktion, als Roman, als Novelle. Die Form ist ja legitim, zu sagen, ich fasse in einer großen Novelle oder in einen kurzen Roman das Wichtigste aus dem Leben zusammen, um neugierig zu machen auf das Erlebnis, Friedrich Glauser selbst zu lesen.

krimiblog.de: Aber wie viel Fiktion steckt denn in„MO“?

Frank Göhre: Das ist ganz schwierig zu beantworten. Ich könnte grundsätzlich sagen, es ist bis auf wenige Passagen – nämlich auf die Passagen der Krankheitsprotokolle – eigentlich alles von mir geschrieben. Aber: Was ich geschrieben habe beinhaltet wiederum Zitate, Momente, Situationen aus dem Lebenswerk von Glauser. Ich habe es mir aufgrund der mehrfachen Lektüre angeeignet, es bei mir verarbeitet, komprimiert und in Texte gesetzt, die eigentlich alle von mir sind, auch die kursiv gesetzten Abschnitte, auch die Tagebücher und die Notizen sind von mir gestaltet. Glauser hat in dem Sinne – jedenfalls weiß das keiner und Bernhard Echte hätte es sicher auch herausgefunden – keine Tagebücher geschrieben. Die Tagebuchform ist von mir erfunden worden, aber sie ist durchsetzt mit Momenten aus Briefen, Passagen seiner Romane, aus Überlegungen, die er an anderer Stelle angestellt hat, so dass man eigentlich sagen kann: Der Autor Göhre hat sich in die Figur Glauser hineingesetzt und sein Tagebuch geführt, über den Fortgang seiner Arbeit mit den Romanen. In der Realität ist es so gewesen, dass Glauser sich in Briefen damit auseinander gesetzt und sich in Briefen mitgeteilt hat.

Im Prinzip kann man sagen, ist alles von mir, aber fortlaufend durchsetzt mit Glauser-Zitaten, die nicht besonders erkennbar sind. Ich habe sie nicht besonders gekennzeichnet, sonst wäre es ein übles Hin und Her gewesen mit kursiv gesetzten Stellen – das wäre einfach nicht machbar gewesen.

„Als Figur hat er eine große Aktualität“

krimiblog.de: Wie sieht es mit den historischen Personen aus, zum Beispiel mit den zahlreichen Frauenbekanntschaften, die Glauser gehabt hat. Haben Sie mit Verfremdung gearbeitet?

Frank Göhre: Es sind Verfremdungen vorhanden, aber die Figuren haben alle einen ganz konkreten Bezugspunkt zu damals lebenden Personen. Nur habe ich aus Persönlichkeitsschutzrechten die Namen verändert. Ich hatte vorher mit einigen Literaturwissenschaftlern gesprochen, die mir dazu geraten haben. „Wenn Du einen Roman schreibst, dann sage nicht „Emmy Ball-Hennings“ sondern erfinde dafür einen speziellen Namen. Man weiß nie, ob nicht irgendwo noch eine Urenkelin von Ball-Hennings lebt, die möglicherweise sagt, meine Großtante – oder wer auch immer – hat nie mit dem Glauser ein sexuelles Verhältnis gehabt. Dagegen klagen wir.“ Das war der konkrete Grund.

In der ersten Fassung des Romans hatte ich alle realen Namen, da hatte ich Emmy Ball-Hennings stehen, da hatte ich Hugo Ball stehen, da hatte ich auch den Psychiater, den Vormund genannt, da habe ich Beatrix Gutekunst und Berte Bendel mit richtigem Namen genannt.

Dann hatte ich ein Gespräch an der Uni in Gießen und ein junger, sehr engagierter Literaturwissenschaftler, mit dem ich lange geredet habe, sagte: „Es soll ja ein Roman sein, dann ändere die Namen. Das könnte durch Urenkel oder wem auch immer Schwierigkeiten geben. Die könnten sagen, Du hast sie so in die Fiktion gebracht oder Du unterstellst ihnen sexuelle oder sonstige Verbindungen mit dem Glauser. Nein, das war nicht so. Dann hast Du den Skandal da.“ Das wollte und konnte ich nicht. Ein kleiner Verlag wie der Pendragon könnte solche Klagen gar nicht durchstehen.

krimiblog.de: Ist Friedrich Glauser denn auch heute noch ein Zeitgenosse?

Frank Göhre: Ich halte ihn nach wie vor für einen Zeitgenossen, eben in seiner Radikalität, in der er gelebt hat. Seine radikale Suche nach Ruhe, Geborgenheit, verbunden mit dem Umtriebigen, Nichtsesshaften, verbunden mit dem Drogenkonsum. Das macht ihn zu jemanden, der sehr aktuell ist, der uns sehr nahe ist. Er ist nicht der etablierte Bürger, der gesettelte Schriftsteller – er ist ein ständig Suchender. Die Elfriede Jelinek, die ein ganz großer Glauser-Fan ist, hat einen kleinen Essay über ihn geschrieben und nimmt ihn auch als Zeitgenossen an, auch in seinem ganzen Krankheitsbild, das Ausdruck unserer Gesellschaft heute ist und was dieser Mann alles verkörpert hat. Daher denke ich hat er als Figur eine große Aktualität.

Die Popularität der Wachtmeister-Studer-Romane hat andere Hintergründe. Ich denke, da spielt auch mit, was der Glauser selbst bei sich gesucht hat – einen ruhigen Pol. Eine bekannte Psychoanalytikerin hat mir geschrieben, dass für sie der Studer der trockene Vater ist, der ordentliche Vater, der gesettelte Vater. Nicht der alkoholkranke und seine Alkohlsucht krampfhaft unterbindende Vater – sondern der wirklich trockene, sachlich nüchterne Vater. Sie hat ihn nüchternen Vater genannt, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Zwar hat er seine Ecken und Macken, er ist aber nicht in dem Sinne gefährdet. Ich glaube die Figur des Studers, ist etwas, was viele Leser ganz angenehm finden. Eine Figur, die nicht strafend oder zynisch ist, sondern eine ruhige Art hat. Der zuhört, sich hinsetzt oder „abhockt“, wie der Schweizer sagt. Der seine Zigarillo, seine „Brissago“ raucht, den Leuten zuhört und sich dann seine eigenen Gedanken macht. Der sich auch reibt an all dem, an dem sich auch der Glauser gerieben hat. In „Matto regiert“ gibt es eine Stelle, wo der Studer mit dem Psychiater arg aneinander gerät: Was kann die Psychoanalyse leisten? Was nützt es, einen Menschen so aufzubrechen, dass er alles preisgibt? Das sind Themen, die auch den Glauser immer angetrieben haben. Diese Fragen sind es, die die Leute gerne lesen. Vom Plot her – habe ich immer gesagt – sind die Romane alle eine Katastrophe.

„Das habe ich unter den Tisch fallen lassen“

krimiblog.de: Das kann man von Ihren Romanen, Ihren Kriminalromanen nicht sagen. Zwischen dem dritten Band der Kiez-Triologie „Der Tanz des Skorpions“ und dem vierten „Zappas letzter Hit“ lag ein langer Zeitraum. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, aus Ihrer Triologie eine Tetralogie zu machen?

Frank Göhre: Der Zeitraum, der zwischen beiden Romanen liegt beträgt, wenn ich richtig nachgerechnet habe, etwas mehr als 10 Jahre. Einmal war es eine rein ökonomische Sache. Ich habe in dieser Zeit einfach Geld mit Fernseharbeiten verdienen müssen. Da blieb wenig Zeit, um Romane zu schreiben. Ausgelöst hat den „Zappa“ dann der Filmhistoriker Norbert Grob, der damals zu dem Dreierband der „St.-Pauli-Triologie“ das Vorwort geschrieben hatte. Er schrieb, dass für ihn als Leser nur eine Frage unbeantwortet blieb: Was geschah mit Birte, der Lebensgefährtin von Brozinski? Das würde er gerne wissen wollen. Dieser Punkt hat immer in mir gearbeitet. Ich glaube da hat er Recht, ich habe das im letzten Band einfach unter den Tisch fallen lassen. Sie verschwindet einfach spurlos und taucht nicht mehr auf. Ich habe dann gesagt, das ist das Geheimnis, das ich auch nochmal lösen sollte.

Nachdem ich durch Film und Fernsehen einiges verdient hatte, konnte ich mir eine Auszeit gönnen. Ich konnte mich hinsetzen und diesen Roman anfangen. Ich habe ganz bewusst die Szene, in der Zappa sich und seine Frau erschießt und die schon im „Skorpion“ vorkommt, als Prolog genommen, um so den Anschluss zu finden. Um dann aufzurollen, was jetzt passiert mit dem Nachlass des Zappas und auch letztlich klärt, was aus der Birte geworden ist. Das war der Ansporn und dann hat sich das von der Form her zu etwas entwickelt, wo ich einiges Neues ausprobieren wollte, mit diesen vier Säulen. Der Roman erstreckt sich über ein Jahr, über das Jahr 2002, wo ich mit den vier Säulen – „Mai ist gekommen“ bis hin zum Herbst und Reeperbahn – Stimmungen und Atmosphäre gesetzt habe.

krimiblog.de: In der Kritik wird oft betont, wie gut Ihre Kiez-Triologie recheriert ist. Wie ist das denn heute – haben Sie noch viele Kontakte auf dem Kiez? Sehen Sie ihn überhaupt noch?

Frank Göhre: Natürlich sehe ich ihn heute noch, einfach, weil ich dort oft ins Theater gehe, ins St.-Pauli-Theater oder auch noch in Kneipen gehe. Ich muss aber sagen, es ist nicht mehr so intensiv, wie es in den 90er Jahren bei mir war. Das intensive Erleben auf dem Kiez fing bei mir durch verschiedene Freunde an. Einmal durch den inzwischen verstorbenen Hans Eppendorfer, mit dem ich befreundet war und der mich viel mitgenommen hat. Später mit einem Kronzeugen aus dem Pinzner-Prozess. Durch sie habe ich Leute aus dem Milieu kennen gelernt oder auch Leute aus der Davidwache oder der Pressestelle der Polizei. Ich war damals sehr viel intensiver eingebunden. Ich war drei, vier Mal in der Woche abends dort und habe mich mit Freunden getroffen. Das ist vorbei. Heute gehe ich nach St. Pauli um ins Theater zu gehen oder um Freunde, die von außerhalb kommen, ein paar Orte zu zeigen. Ich mache da den Fremdenführer – mehr nicht. Ich muss auch sagen bis auf ein paar wenige Kneipen, wo ich noch ein paar Leute kenne, wo man sich hin und wieder trifft, hat es sich auch grundlegend geändert. Der Kiez ist nicht mehr das, was er noch vor zehn oder 15 Jahren war. Selbst wenn ich in den „Silbersack“ gehe, sitzen dort andere Leute als vor zehn Jahren.

Ich habe nach „Zappas letzter Hit“ nicht vor, einen weiteren Kiez-Roman zu schreiben. Ich werde sicher noch einen Roman schreiben, der hier in Hamburg angesiedelt ist, sicher auch wieder einen Kriminalroman. Aber es wird nichts mehr mit den alten Figuren und mit dem Kiez zu tun haben. Nach „MO“ weiß ich noch nicht genau, was ich schreiben werde. Ich experimentiere und sammle verschiedene Sachen. Es gibt mittlerweile wieder genug, worüber man schreiben könnte – angefangen von Geldern in Lichtenstein bis hin zum VW-Skandal, die man auch hier in Hamburg etablieren kann.

„Man wird noch an der Form arbeiten müssen“

krimiblog.de: Aktuell steht ja jetzt im April 2008 Ihr erstes Hörspiel in der ARD-Reihe „Radio Tatort“ an. Was erwartet uns da?

Frank Göhre: Dieser „Radio Tatort“ ist ein hoch kompliziertes Gebilde. Es hat lange gedauert, bis die Sender sich zusammen gefunden hatten. Es hat auch relativ lange gedauert, bis sich der NDR für mich als Autor entschieden hatte. Sie haben eine Ausschreibung an fünf oder sechs Autoren gesandt. Alle sollten ein Konzept vorlegen. Mein Konzept wurde schließlich akzeptiert und genommen. Es ist – ganz schlicht gesagt – das Konzept eines gescheiterten Musikers der behindert ist, weil ihm der Daumen an der rechten Hand fehlt. Er tingelt als Musikant durchs Land, weil es der Wunsch des NDRs war, sämtliche Sendegebiete des NDRs damit abzudecken. Das heißt nicht nur Hamburg, sondern Schleswig-Holstein, Niedersachen und Mecklenburg-Vorpommern. Man konnte keinen Kommissar nehmen, der nur in Hamburg tätig ist. Daher habe ich diesen Neun-Finger-Pianisten genommen, der überall herumtingelt und als Undercover-Mann für das Hamburger LKA arbeitet. Der Anspruch war, aktuelle Fälle zu nehmen und sie als Hörkrimi darzustellen. Das war ein bisschen schwierig, weil eine Vorgabe lautete, dass nur aus der Perspektive der ermittelnden Person, des Jac Garthmann, erzählt werden sollte, was eine ungeheure Einschränkung war. Wir haben das nach der Produktion festgestellt. Bei der nächsten wird diese Einschränkung sicher aufgehoben, damit auch die andere Person mehr Spielraum bekommt.

Es sollten zudem aktuelle Fälle sein. Ich habe einen Fall vorgeschlagen und der ist auch realisiert worden: „Schmutzige Wäsche“. Da geht es um Warenimitate, Produktimitate, Handel mit Produktimitaten – dargestellt anhand eines Sportgeschäfts in Lüneburg, das kurz vor dem Konkurs steht. Der Händler muss etwas machen, um aus dem drohenden Konkursverfahren herauszukommen. Da lässt er sich auf den Handel mit Warenimitaten ein.

Das Hörspiel ist erst vor einer Woche fertig produziert worden, ich kriege wahrscheinlich erst in der nächsten Woche die Kassette, ich weiß also noch nicht, wie es geworden ist. Ich denke aber, es ist sehr gut. Allerdings wird man an dieser Form noch sehr viel arbeiten müssen, um sie wirklich gut zu etablieren – von allen Sendern. Ich glaube nicht nur beim NDR, bei allen Sendern ist es noch ein Herantasten, um die entsprechende radiophone Form zu finden. Die Kölner haben einen gemacht, der ist teilweise kritisiert worden, weil es zu viele Geräusche, zu viele wechselnde Stimmen gab. Die Schwaben haben einen mit Mundart produziert, was teilweise für andere Bevölkerungsgruppen schwer verständlich war. Wir haben es einfacher gehalten, aber diese Einfachheit kann uns möglicherweise negativ ausgelegt werden, weil man vielleicht sagt: „Es ist doch zu simpel geworden.“ Ich denke, es wird sich nach dem einen Jahr herausstellen, ob die Radiotatort-Reihe funktioniert und fortgeführt wird.

krimiblog.de: Wie sieht es denn mit der Arbeit als Drehbuchautor für Film und Fernsehen aus? Planen Sie da etwas Neues?

Frank Göhre: Ich habe mich aus dem Schreiben von Drehbüchern für Film und Fernsehen erst einmal zurückgezogen. Das hat aber mehr mit Zeit zu tun. Ich habe den Wunsch bei mir verspürt und dem will ich auch nachgehen, ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste, ich möchte noch ein paar gute Bücher schreiben.

krimiblog.de: Kommen dann Krimis oder – wie man es vom Friedrich Glauser übernehmen könnte – die „richtigen Bücher“?

Frank Göhre: (lacht) Ich weiß es nicht genau – vielleicht kommen die richtigen Bücher. Auf jeden Fall wird es eine Neuauflage der „St.-Pauli-Triologie“ geben und dazu habe ich eine ganz konkrete Vorstellung. Es wird eine Arbeit sein, die mir viel Spaß macht. Ich werde zu der Neuausgabe einen dokumentarischen Hintergrund gestalten – ähnlich, wie es Hans Magnus Enzensberger zu „Der kurze Sommer der Anarchie“ gemacht hat. Aus dem ganzen Material, das ich habe aus den Gesprächen, die ich damals geführt habe, aus den Protokollen, aus den Zeitungsausschnitten, den Rundfunksendungen, werde ich einen Teppich zusammenstellen aus dem deutlich wird: Das war Hamburg in den Jahren bis 1990. Ich möchte einen großen dokumentarischen Text schreiben, um es dem Leser zu ermöglichen zu sehen, wie aufgrund dieser Texte die fiktionalen Romane entstanden sind. Da gibt es sicher einzelne Berührungspunkte, aber meine Vorstellung ist es, ein Stück Hamburger Zeitgeschichte deutlich zu machen. Das will ich in diesem Jahr noch anfangen und dann im nächsten Jahr fortsetzen. Was dann kommt, weiß ich noch nicht.

krimiblog.de: Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg dabei und bedanke mich für das informative und herzliche Gespräch.

Frank Göhre: Ja, vielen Dank!

Frank Göhre – eine Bücher-Auswahl

Frank Göhre: Mo : Der Lebensroman des Friedrich Glauser. – Bielefeld : Pendragon, 2008
ISBN 978-3-86532-085-81

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Frank Göhre: Zappas letzter Hit. – Bielefeld : Pendragon, 2006
ISBN 978-3-86532-050-6

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Frank Göhre: An einem heißen Sommertag. – Bielefeld : Pendragon, 2006
Enthält die Romane „Letzte Station vor Einbruch der Dunkelheit“ und „Schnelles Geld“
ISBN 978-3-86532-993-6

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Frank Göhre: St. Pauli Nacht und Rentner in Not
Enthält die DVD St. Pauli Nacht, der Kinofilm von Sönke Wortmann. – Bielefeld : Pendragon, 2007
ISBN 978-3-86532-064-3

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Die ersten drei Bände der St.-Pauli-Triologie, momentan vergriffen:
Frank Göhre: Der Tanz des Skorpions. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1991
ISBN 3-499-43025-8

Frank Göhre: Der Tod des Samurai. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1989
ISBN 3-499-42832-6

Frank Göhre: Der Schrei des Schmetterlings. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1986
ISBN 3-499-42759-1

Links:

→ Frank Göhre – offizielle Homepage
→ Besprechung zu „MO“