„Eine gute Kriminalgeschichte schärft die Sinne“

vom Krimiblogger

Andrew Taylor. Photo by Ludger Menke

Ein Interview mit dem britschen Autor Andrew Taylor
Von Ludger Menke

Er ist einer der erfolgreichsten Kriminalschriftsteller in England: Andrew Taylor. Der 1951 geborene Autor hat über 30 Bücher veröffentlicht, neben Kriminalromanen auch Kinder- und Jugendbücher. Bei uns wurde Taylor unter anderem durch seine „Roth“-Triologie bekannt, in der er auf sehr realistische Weise das Leben im Londoner Vorort Roth erzählt und die in England unter dem Titel „Fallen Angel“ für das Fernsehen verfilmt wurde. Auch die „Lydmouth“-Serie, deren erster Band „An Air That Kills“ (dt.: „Dunkle Verhältnisse“) 1994 erschienen ist und von einem Kritiker als „Middlemarch mit Mord“ bezeichnet wurde, ist bei uns erschienen. In der bislang acht Bände umfassenden Serie schildert Taylor das Leben des Polizisten Richard Thornhill in dem kleinen, fiktiven Ort Lydmouth während der 1950er Jahre. Leider ist Andrew Taylor, der scheinbar mühelos zwischen verschiedenen Stilen der Kriminalliteratur wechseln kann, immer noch ein Geheimtipp bei uns. Um so erfreulicher, dass er im April 2008 zu einer Lesereise nach Deutschland kam und ich die Möglichkeit zu einem Gespräch hatte.


krimiblog.de: Vor einigen Monaten hat ich die Gelegenheit den britischen Autor Gilbert Adair zu interviewen. Sie haben vor zwei Jahren seinen Kriminalroman → „The Act of Roger Murgatroyd“ (dt.: „Mord auf ffolkes Manor“) besprochen. Dabei sagte er mir unter anderem, das Kriminalliteratur für ihn vor allem eine „nostalgische Angelegenheit“Anm. 1 ist. Was bedeutet Kriminalliteratur für Sie?

Andrew Taylor: Ich glaube Kriminalliteratur hat viele Bedeutungen. Eine Bedeutung – eine sehr materielle Bedeutung – ist, dass Kriminalliteratur mir meinen Lebensunterhalt sichert. Eine andere Bedeutung ist, dass sie mir erlaubt, die über die Dinge zu schreiben, die ich oft lese. Ich meine Romane, die über eine starke Erzählung verfügen, die starke Charaktere und Themen vorweisen, die unabkömmlich in der Welt verankert sind, in der sie spielen. Vor allem aber Romane, die einen Plot haben und über eine erzählerische Spannung verfügen. Mit anderen Worten: Der Grund, warum viele Autoren heutzutage Kriminalliteratur in Großbritannien schreiben, liegt darin, dass Kriminalliteratur ihnen erlaubt, all die viktorianischen Schreibtechniken zu verwenden, diese Techniken des 19. Jahrhunderts, um fiktionale Literatur zu schreiben. Einige moderne Autoren haben solche Techniken zwar hinter sich gelassen. Sie gehen andere Wege um Literatur zu schreiben – was großartig ist – doch einige andere Autoren hängen immer noch an den alten Techniken und an Dingen wie Plot oder Erzählstil.

krimiblog.de: Das finde ich interessant, denn auch Adair behauptet, dass der Plot für Kriminalliteratur sehr wichtig ist und das die moderne britische Literatur etwas verloren habe – nämlich den Plot. Teilen sie seine Einschätzung?

Andrew Taylor: Ich glaube, er hat in vielen Fällen Recht. Nehmen Sie diese wunderbar geschriebenen Romane, die es aber auf irgendeine Art nicht schaffen, ihre Erzählung in eine Richtung zu treiben. Weil nur das Schreiben alleine zählt oder nur wichtig ist, auf welche Weise der Roman ausgeführt wurde. Sie verfügen über keinen Sinn für Bewegung, in ihnen wird keine Geschichte entfaltet. Ich glaube es ist richtig, was J.R.R. Tolkien einmal feststellte. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das englisch Wort “spell“ eine Beziehung zum deutschen Wort “Spiel“ hat. Mit anderen Worten: Eine Geschichte ist eine Form der spielerischen Verzauberung und ich glaube, viele von uns Autoren versuchen, unsere Leser mit einer Geschichte zu verzaubern. Ich bin sicher, das ist es, was ein guter Kriminalroman kann.

„Ich erfreue mich an den Möglichkeiten, die mir die Kriminalliteratur bietet“

Dunkle Verhältnissekrimiblog.de: Sie haben über 30 Romane geschrieben und was mich beeindruckt ist Ihre Fähigkeit, in sehr unterschiedlichen Formen der Kriminalliteratur zu schreiben. Da gibt es zum Beispiel die „Roth“-Triologie, die an psychologische Thriller erinnert, da gibt es die „Lydmouth“-Serie, die vom Kern her eher dem Polizeiroman zugeschrieben werden kann. Dann gibt es den historischen Roman „An American Boy“ (dt.: „Der Schlaf der Toten“) über Edgar Allan Poe. Wie schaffen Sie es, zwischen diesen unterschiedlichen Formen hin und her zu wechseln?

Andrew Taylor: Das ist eines der großen Vergnügen, wenn man Kriminalliteratur schreibt. Wir sind nicht mehr länger an ein oder zwei Formen gekettet. Hätten wir in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, dann hätte es tatsächlich nur ein oder zwei Hauptformen gegeben. Eine davon ist die klassische Form des “english murder mystery“, wie sie Agatha Christie geschrieben hat. Miss Marple. Sie kennen das: Ein geschlossener Kreis von Verdächtigen, wo es oft einen Amateuerdetektiv gibt und keinen Polizisten. Wo Sie von vornherein wissen, dass das Blut auf dem Teppich der Bibliothek heraus gewaschen werden kann. Die Aufdeckung des Mörders ist zugleich die Auflösung eines Puzzles und der Tod verschwindet wieder. Die andere Form in den 1930er Jahren war die transatlantische Variante, wo Sie den einsamen Privatdetektiv haben, der durch die gefährlichen Straßen der Großstadt streift, die Pistole in der einen Hand, in der anderen ein Weibsbild und eine Flasche Scotch in seiner Tasche.

Heutzutage, so erscheint es mir, können wir mit der Form des Kriminalromans alles tun, solange wir uns an zwei Dinge erinnern: Es muss eine Verbindung zur Kriminalität geben, in der Regel ist diese Verbindung eine Leiche, deren Tod aufgeklärt werden muss. Weiterhin – und das greift zurück auf das, worüber wir vorhin schon gesprochen haben, über die Geschichte und über die Art, wie Literatur im 19. Jahrhundert geschrieben wurde – müssen wir unsere Leser unterhalten und zwar in dem Sinne, dass wir sie dazu bringen, die Seiten umblättern zu wollen. Wir brauchen diese erzählerische Spannung. Niemand liest Kriminalliteratur, weil er oder sie glaubt, das sehe gut aus. Es gibt einige Leute, die lesen “literarische“ Bücher, weil sich das Buch gut auf dem Couchtisch macht. Manche lassen es einfach auf dem Couchtisch liegen und öffnen es noch nicht einmal.

Weil die Kriminalliteratur es mir erlaubt, in so vielen verschiedenen Formen zu schreiben, möchte ich diese Formen ausprobieren und erkunden und mich nicht nur auf eine Art des Schreibens beschränken. Für einen Krimiautor gibt es das Berufsrisiko, dass er die selbe Geschichte immer und immer wieder schreibt. Du änderst einfach die Namen der Charaktere, Du änderst ein paar Dinge hier und da. Wir alle kennen Krimiautoren, die eine Serienform gefunden haben und die wunderbar funktioniert, das kann eine sehr brillante Form sein. Das einzige Problem: Sie tun es immer und immer wieder. Wobei dies nicht unbedingt ihr Fehler ist, es ist eher ein Versagen der Verlage und in der Tat des Publikums. Denn es gibt einige Leser und viele Verlage, die Autoren mögen, weil sie immer die selbe Geschichte schreiben. Sie wissen zum Beispiel, dass es jedes Jahr einen Roman im Stil von Agatha Christie zu Weihnachten erscheint. Es gibt also durchaus diesen Druck zur Serie, aber es ist heute für Kriminalautoren nicht mehr unbedingt nötig, dies zu tun. Ich selbst erfreue mich – und ich verwende das Wort “erfreuen“ vorsichtig – an den vielen Möglichkeiten, die Kriminalliteratur mir bietet.

krimiblog.de: Das bringt mich zu einer These, die ich über Kriminalliteratur habe. Nämlich das eine bestimmte Art von Kriminalliteratur Märchen für eine bestimmte Gruppe von Erwachsenen ist. Sie möchten wie kleine Kinder immer und immer wieder die gleiche Geschichte vorgelesen bekommen – jeden Abend.

Andrew Taylor: Ja, das ist wahr. Tatsächlich hat der englisch-irische Dichter Cecil Day Lewis einmal gesagt, dass Kriminalgeschichten Märchen für Erwachsene sind. Ja, da haben Sie Recht und ich glaube, Erwachsene lieben Krimis so, wie Kinder Märchen lieben, weil sie so vertraut sind. Es gibt meiner Meinung nach aber noch einen anderen Grund dafür. Eine gute Kriminalgeschichte kann, wie ein gutes Märchen, den Sinn für Dinge schärfen, die sonst nur sehr schwer verständlich und begreifbar sind. In der Kriminalliteratur ist es der Tod, besonders der gewaltsame oder plötzliche Tod, vor allem aber der Tod als eine unausgesprochene Tatsache in unserem Leben. In Märchen finden sich all die verwirrenden Dinge, mit denen ein Kind lernen muss, umzugehen. Das schließt den Tod mit ein, aber auch Mama und Papa und Sex und all diese Dinge. Ja, ich glaube, wir haben da die gleiche Meinung.

„Der Roman begann mit George W. Bush“

Der Ruf des Henkerskrimiblog.de: Die meisten Ihrer Romane spielen in der Vergangenheit. Warum sind Sie so fasziniert von der Vergangenheit?

Andrew Taylor: Meine frühen Romane spielen in der Gegenwart, aber es stimmt, die neueren Romane sind fast alle in der Vergangenheit angesiedelt. Der Grund liegt einerseits an meiner Faszination für Geschichte. Ich habe mich schon immer sehr für Geschichte interessiert, es ist fast eine Liebe zur Historie. Der andere Grund liegt paradoxerweise darin, dass ich mich auch sehr für die Gegenwart interessiere. Ich denke, je mehr wir unsere Geschichte verstehen, desto mehr können wir die Gegenwart verstehen oder zumindest hoffen, sie besser zu verstehen.

Auslöser für mein letztes Buch “Naked To The Hangman“ (dt. „Der Ruf des Henkers“) aus der „Lydmouth“-Serie war, als George W. Bush sagte: “Marschieren wir in den Irak ein!“. Wie viele Menschen weltweit habe ich gedacht, dass dies ein dummer Schritt ist. Es führte mich zu der Geschichte des Mittleren Ostens. Was passierte damals, als die westlichen Mächte, die Europäer und die Amerikaner, versucht haben, massiv in dieser Region einzugreifen, die eine sehr komplexe, faszinierende aber auch gefährliche Gegend ist. Dies führte mich zum britischen Mandat in Palästina am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Engländer den Auftrag hatten, das damalige Palästina zu verwalten. Es war kein Auftrag, um den man sich gerissen hatte, es war eine dieser unschönen Verpflichtungen.

Insbesondere nach dem Krieg entwickelte sich eine schwierige Situation, als jüdische Einwanderer kamen und es auch viele jüdische Familien gab, die dort seit Generationen lebten, weil sie natürlich in ihrem Heimatland sein wollten. Die Palästinenser, die auch seit Generationen dort lebten – einige von ihnen waren Christen, andere waren Muslime – wollten natürlich auch in ihrem Heimatland leben. Es gab also drei verschiedene Gruppen, die zu diesem Ort gehörten: Die Engländer, die Juden und die Palästinenser. Es war ein Chaos. In diesen konfusen Jahren von 1946 bis 1948 bildete sich der erste, moderne Terrorismus aus. Die Engländer zogen sich schließlich recht glanzlos zurück. All das interessierte mich, doch was den Ausschlag zum Roman gab, war, dass es eine britische Polizeieinheit dort gab, deren leitende Beamte von Großbritannien aus dorthin versetzt worden waren.

Also überlegte ich, was hätte geschehen können, wenn mein Kriminalkommissar Richard Thornhill in jungen Jahren nach Palästina abkommandiert gewesen wäre. Eine durchaus plausible Möglichkeit. Und was würde passieren, wenn ihn zehn Jahre später ein Ereignis aus dieser Zeit in seinem sicheren und heimeligen Ort Lydmouth einholt. So begann der Roman: Mit George W. Bush.

„Geheime Autobiografie“

Andrew Taylor by Ludger Menkekrimiblog.de: Wie arbeiten Sie beim Schreiben: Haben Sie schon vorher einen roten Faden oder ergibt sich das alles während des Schreibprozesses?

Andrew Taylor: Das hängt vom Buch ab. Bei der „Lydmouth“-Serie weiß ich sehr genau, welches Setting ich habe, ich weiß viel über die Hauptcharaktere. Bei dieser Serie beginne ich mit einem längeren Entwurf, es ist noch keine Rohfassung oder ein Plan, es ist eine Kombination aus beiden, die etwa 30.000 Wörter umfasst. Es sind Notizen zu einzelnen Szenen, ein wenig wie das Treatment zu einem Film. Diese Herangehensweise ist allerdings die Ausnahme. Bei meinen anderen Bücher, egal ob sie zu einer Serie gehören oder zum Beispiel zur „Roth“-Triologie, deren einzelnen Bände sehr unterschiedlich sind, beginne ich mit ein paar Charakteren, einem Thema, einem Handlungsort und dann muss ich die Geschichte finden. Zunächst einmal muss ich mir die Geschichte selbst erzählen, oftmals mit einigen fehlerhaften Ausdrücken.

krimiblog.de: Was mich fasziniert, ist Ihre Fähigkeit Stimmungen von Orten und von Figuren einzufangen. Wie schaffen Sie das?

Andrew Taylor: Ich weiß es nicht. Ich arbeite sehr hart daran (lacht). Ich bin eng verbunden mit meinen Handlungsorten. Ich bin überzeugt, dass Orte eine Atmosphäre haben und ich versuche diese Orte sehr genau zu recherchieren. Ich versuche auch, mich in meine Figuren hinein zu versetzen. Ich wünschte mir, es gäbe eine Art Zauberformel dafür, aber in Wirklichkeit ist es harte Arbeit sich in eine Geschichte hinein zu versetzen und sie nicht nur von außen zu betrachten. Ich denke, je mehr ein Autor in seiner Geschichte ist, desto besser wird sie. Wir müssen uns zunächst einmal selbst die Geschichten erzählen, bevor wir sie unseren Lesern erzählen. Wir Autoren müssen uns sie selbst erzählen, denn wir sind unser erstes Publikum.

krimiblog.de: Dabei vermeiden Sie aber autobiografische Erlebnisse, oder?

Andrew Taylor: Manchmal denke ich, alle fiktionale Literatur ist eine geheime Art von Autobiografie. In diesem Sinne haben alle meine Bücher verborgene Anspielungen, Fragmente von Erlebnissen, die mir oder Menschen, die ich kennen, passiert sind. Dinge, die ich gehört habe, Dinge, die ich gelesen habe. Wenn ich einen Charakter entwerfe, beginne ich im Geiste mit einem realen Menschen. Nennen ihn einfach John Smith. Er sieht aus wie jemand, den ich auf der Universität kannte. Oder zeigt das gleiche Verhalten. Das sind Bruchstücke, eine Art mentale Stenographie, die zum Charakter gehören. Wenn ich mit dieser Arbeit fertig bin, hat dieser Charakter noch viele andere und verschiedene Aspekte angenommen, die von anderen Quellen stammen und die auch den Gang der Geschichte beeinflussen. Da sind wir wieder bei den Autoren, die während des Schreibens eher lernen, statt eine Geschichte zu beeinflussen. Charaktere erschließen sich dem Leser unter anderem durch ihr Handeln und das wiederum beeinflusst die Entwicklung von Charakteren, vielleicht anders, als man es aus Autor von Anfang an geplant hatte. Eine britische Autorin sagte, als sie gefragt wurde, ob ihre Figuren der Wirklichkeit nach empfunden wurden: „Ja, aber man sieht am Ende auch nicht mehr das Schwein in der Wurst“. (lacht)

„An Edgar Allen Poe kommt man nicht vorbei“

Der Schlaf der Totenkrimiblog.de: Jetzt wird es schwierig für mich vom Schwein in der Wurst zu einem echten, realen Charakter in einem ihrer Bücher zu kommen. Also: Bruch. Ich komme zu Edgar Allan Poe, den Sie in Ihrem Roman → „The American Boy“ (dt.: „Der Schlaf der Toten“) porträtiert haben. War das Buch als eine Hommage angelegt?

Andrew Taylor: Teilweise schon. Als Kriminalautor kommt man an Edgar Allan Poe nicht vorbei. Er hat viele Aspekte des Genres entworfen oder weiterentwickelt. Vor zwölf oder zehn Jahren begann ich damit, die Kurzgeschichten von Poe erneut zu lesen. In der Einleitung des Herausgebers las ich, das Poe für fünf Jahre in England gelebt hat und als Junge hier zur Schule gegangen ist. Bis dahin wusste ich nichts darüber, aber diese Tatsache weckte mein Interesse. Ich dachte, ich könnte damit etwas anfangen. Ich hatte schon lange die Absicht, ein Buch schreiben, das im frühen 19. Jahrhundert spielt, weil es so eine faszinierende Zeit ist. An Poe mochte ich, dass er ein Mensch war, denn man sonst nur schwer im England des frühen 19. Jahrhunderts finden konnte.

Poes Charakter erscheint uns eher amerikanisch, weniger viktorianisch. Poe wurde zu einer kulturellen Ikone. Viele kennen ihn durch Filme, oder die „Simpsons“, durch bildende Kunst oder Musik. Viele Menschen kennen ihn, obwohl sie nie eine Zeile von ihm gelesen haben. Er hat eine Art “Superleben“ bekommen. All das faszinierte mich, aber was ich am meisten interessierte war die Tatsache, dass man nur sehr wenig über seine Londoner Jahre wusste. Für jeden Schriftsteller bedeutet dies grünes Licht: Ich kann alles damit machen, solange ich mich an die wenigen, historischen Fakten halte. So begann der Spaß.

krimiblog.de: Also gibt es sehr viel Fiktion in diesem Roman?

Andrew Taylor: Ja, aber ich habe es verankert in einem sehr exakt recherchierten historischen Kontext. Ich bin sehr vorsichtig damit umgegangen, auch was die Sprache betrifft. Nicht nur die rein physischen Gegebenheiten, sondern auch wie Menschen gesprochen oder gedacht haben. Allerdings habe ich mich nicht nur innerhalb dessen bewegt, was wir über Poes Kindheit und zum Beispiel über seine Stiefeltern wissen. Ich habe den Roman auch genutzt, um Erklärungen für einige der merkwürdigen Ereignisse in Poes Leben zu finden. Zum Beispiel für die Tatsache, dass sein Vater verschwand, als Poe ein Kleinkind war. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Also dachte ich mir, dafür kann ich eine fiktionale Antwort finden. Dann gibt es einen anderen Fakt, nämlich das Poe am Ende seines Lebens für fünf Tage verschwunden war. Niemand weiß, was mit ihm kurz vor seinem Tod passiert ist, bis er wieder auftauchte, im Stadium eines vollständigen psychischen und physischen Zusammenbruchs. Auch darauf konnte ich im Buch eine Antwort finden.

Ein anderer Punkt ist, dass ich in meinem Buch, durch den Plot und durch bestimmte Ereignisse
eine Art Vorfigur schaffen konnte. In Poes Kurzgeschichten und Gedichten, die er als Erwachsener geschrieben hat, finden sich viele Echos aus seiner Kindheit. In einer gewissen Weise habe ich ihm eine Kindheit erschaffen, damit er sie später im wahren Leben nutzen konnte.

„Die universellen Themen“

Die Wahrheit die wir den Toten schuldenkrimiblog.de: Kommen wir zu einem anderen Ihrer Romane, zu „A Stain On The Silence“ (dt.: „Die Wahrheit, die wir den Toten schulden“). Darin geht es unter anderem, wie übrigens in vielen ihrer Bücher, um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Wieso fasziniert Sie dieses Beziehung so?

Andrew Taylor: Nun, ich habe selbst Kinder. Ich glaube, es ist die Tatsache, dass wir alle von jemanden das Kind sind. Auch wenn wir sie nicht unbedingt kennen hat doch jeder von uns Eltern. Viele von uns haben Kinder. Das wir jemandes Kind sind, ist eine universelle Tatsache. Von daher ist das eines dieser großen Themen, wie die Liebe oder wie der Tod. Mit „A Stain On The Silence“ wollte ich ein Buch schreiben, das in der Gegenwart spielt, weil viele meiner anderen Bücher in der Vergangenheit angesiedelt sind. Es ging mir auch darum zu beweisen, dass ich immer noch ein Buch schreiben kann, das in der Gegenwart spielt. Es war ein Spaß Figuren zu haben, die zum Beispiel “googeln“ oder die einen Laptop besitzen. Das sind alles Dinge, die ich auch selbst mache. Den letzten Anstoß gab jedoch eine Bemerkung von Samuel Beckett, die er am Ende seines Lebens formuliert hat. Er wurde nach seinem Schreiben gefragt, warum er schreibt und welche Absicht er damit verfolgt. Und Beckett sagte: „It is my way to leave a stain on the silence“ Anm. 2. Das ist ein wunderbarer Satz, ich weiß nicht, wie man ihn ins Deutsche übersetzt. Es ist ein Satz, bei dem einem klar wird, das Samuel Beckett ein Genie war.

Dieses Zitat ging mir durch den Kopf, meine Frau hörte es im Radio, lief in mein Zimmer und sagt: Ich habe einen wunderbaren Titel für ein Buch – „A Stain On The Silence“. Ich habe danach mehr über Samuel Beckett gelesen und über diese Formulierung monatelang nachgedacht. Da kam mir folgender Gedanke: Die meisten Menschen können das nicht über ihre Arbeit sagen. Viele Menschen lieben nicht unbedingt ihre tägliche Arbeit. Nur wenige können von sich behaupten, das zu lieben, was sie jeden Tag tun. Ihre Arbeit ist fundamental wichtig für sie und für das, was sie sind und was sie fühlen. Samuel Beckett konnte das von sich behaupten. Für die meisten Menschen jedoch sind vor allem ihre Kinder ihr “stain on the silence“. Die Kinder sind ihre Art, etwas zu hinterlassen, ein Zeichen in diese Welt zu setzen.

„Ein Spielzeug für Jungen“

Andrew Taylor by Ludger Menkekrimiblog.de: Ich habe gesehen, dass Sie → ein Blog im Internet führen. Wie wichtig ist das Internet für Sie?

Andrew Taylor: Das Schöne am Internet, ist der Kontakt zu anderen Menschen. Schreiben ist eine einsame Angelegenheit und es ist bemerkenswert, was sich in den letzten zehn oder zwölf Jahren entwickelt hat. Ich bekomme viele E-Mails von Lesern aus aller Welt. Ich meine jetzt nicht enorme Mengen, aber da sind diese Menschen, die ich sonst nie getroffen hätte oder von denen ich sonst nie gehört hätte. Es ist so einfach, eine E-Mail zu schreiben. Man kommt in Kontakt und es bereichert meine Arbeit. Weil ich Rückmeldungen von Lesern bekomme für das, was ich schreibe, und zwar auf eine sehr unmittelbaren Art und Weise. Weiterhin werden Recherchen wesentlich einfacher. Sie können so viel finden, obwohl es natürlich auch viel Müll im Netz gibt. Außerdem habe ich herausgefunden, dass ich durch meine Website einfacher in Kontakt zu Leuten kommen kann. Ich mag das Internet – auch wenn es dort viel Mist gibt.

krimiblog.de: : Aber bedeute das nicht noch mehr Arbeit für Sie als Schriftsteller, der täglich etwas schreiben muss?

Andrew Taylor: Da haben Sie sicher Recht. Ich könnte im Netz mehr veröffentlichen, aber ich muss natürlich auch noch meine Bücher schreiben. Deshalb kann ich nicht so viel Zeit damit verbringen. Allerdings versuche ich, die Webseite und auch den Blog aktuell zu halten. Ich aktualisiere sie alle paar Wochen. Ich habe einfach Spaß an diesem „Spielzeug für Jungen“. Ich habe neulich entdeckt, wie man am Mac einen iMovie herstellt. Also habe ich einen Trailer für mein neues Buch zusammengestellt. Es hat viel Spaß gemacht.

„Die faschistische Bewegung war in England sehr stark“

Bleeding Heart Squarekrimiblog.de: Damit haben Sie bereits das neue Buch erwähnt: „Bleeding Heart Square“, das Ende Mai in Großbritannien erscheinen wird. Können Sie mir ein wenig mehr darüber verraten?

Andrew Taylor: Am Anfang dieses Buches stand meine Großmutter. Als Kind erzählte sie mir eine Geschichte über einen Mörder in der Familie. Damit meine ich jetzt nicht meine Familie, es handelte sich vielmehr um einen großen Kriminalfall im viktorianischen England, mit dem die Familie meiner Großmutter entfernt zu tun hatte. Sie waren Bauern auf dem Land, ihre Großeltern hatten einen Bauernhof. Als ihr Großvater starb, musste der Hof verkauft werden. Er wurde an eine wohlhabende Dame verkauft und an einen Mann, der vorgab ihr Ehemann zu sein, obwohl er wesentlich jünger als sie war. In der Tat war er ein Hochstapler, ein schlechter Mensch. Drei Wochen nach dem das Paar in den Bauernhof eingezogen waren, erschoss er sie. Er balsamierte ihre Leiche ein, und in den kommenden vier Jahren fälschte er ihre Unterschrift und eignete sich ihr ganzes Geld an. Während dieser Zeit lebte er auf dem Hof, mit der einbalsamierten Leiche.

Meine Großmutter und ihrer Schwester pflegten als Kinder auf dieser Farm zu spielen. Sie trugen kleine, weiße, viktorianische Kleider, sehr niedlich, und der Hof sah sehr romantisch, sehr pittoresk aus. Doch dort war dieser furchtbare Mord geschehen und schließlich wurde die Leiche gefunden. Der Mann wurde verhaftet und schließlich gehängt.

Es ist eine Geschichte, die sehr lange durch meinen Kopf geisterte. Ich habe überlegt und wollte eine Version schaffen, die in den 1930er Jahren spielt. Das wiederum erlaubte es mir ein anderes Thema hinein zunehmen, das ich erkunden wollte: Den Faschismus in Großbritannien. Die „Britsh Union of Fascists“ und generell die faschistische Bewegung war in England sehr stark in den frühen 1930er Jahren. Es gab einen Punkt, wo die Gefahr bestand, dass sie zu einer sehr festen, politischen Kraft wurden. 1934 war dieses Schlüsseljahr als jedermann klar wurde, dass man ihnen nicht trauen konnte. Nichtsdestotrotz hatten sie eine starke Unterstützung, vor allem in den höheren Gesellschaftskreisen. Sie sahen in den Faschisten einen Weg zurück zu einem fantastischen Niemandsland, in dem die unteren Klassen wussten, wo ihr Platz war.

Ich wollte also über Menschen der faschistischen Oberklasse schreiben. „Bleeding Heart Square“ selbst ist ein Platz in London, auf dem so viel Geschichte, so viele Legenden liegen. Ich wollte nicht nur den historischen Hintergrund einbauen, ich wollte die Geschichte auch in einem Stil der 1930er Jahre verfassen. Es geht um einen Mörder auf der einen Seite, um die Faschisten auf der anderen Seite. “Bleeding Heart“ ist ein Ausdruck, der sowohl metaphorisch wie auch literarisch verwendet werden kann. So gibt es in meiner Geschichte reale blutende Herzen und es gibt sie in einem metaphorischen Sinn. Der Roman ist zugleich eine Kriminalgeschichte, eine “Gothic Novel“ und die Geschichte einer Frau, die zu sich selbst findet.

krimiblog.de: Das klingt sehr spannend. Ich freue mich darauf! Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg mit Ihren Büchern.

Andrew Taylor: Vielen Dank!

Anmerkungen:
Anmerkung 1: Das vollständige Interview mit Gilbert Adair findet sich in:
Krimijahrbuch 2008 / Hrsg. von Christina Bacher, Ulrich Noller, Dieter Paul Rudolph. – Wuppertal : Nordpark-Verlag, 2008. (KrimiKritik; 10). – ISBN 978-3-935421-28-7

Anmerkung 2: In der Tat lässt sich die Phrase „A Stain on the Silence“ schwer ins Deutsche übersetzen. Unter „Stain“ versteht man im Englischen einen Fleck oder auch eine Beize. Sinngemäß geht es darum, ein Zeichen zu setzen oder der Nachwelt etwas zu hinterlassen.

Bücher von Andrew Taylor (Auswahl):
Andrew Taylor: Der Ruf des Henkers / Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. – München : Goldmann, 2008
ISBN: 978-3-442-46457-9
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Andrew Taylor: Die Wahrheit, die wir den Toten schulden / Aus dem Englischen von Caroline Einhäupl. – München : Goldmann, 2007
ISBN: 978-3-442-46255-1
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Andrew Taylor: Der Schlaf der Toten / Aus dem Englischen von Monika Koch. – München : Goldmann, 2005
ISBN 3-442-46080-8
ISBN 13: 978-3-442-46080-9
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→ Andrew Taylor – die offizielle Homepage