Krimirezensionen für Blogs: Die Kunst des Beobachtens

vom Krimiblogger

Beginnen wir mit einer der sieben Todsünden: Invidia – der Neid. Ein beliebtes Mordmotiv in Krimis. Bei mir ist es sogar blanker Neid. Da geht vor Jahren einer daher und nennt sein – zugegeben sehr gutes – Blog → „Watching the Detectives“. Ein Blog, in dem Dieter Paul Rudolph und seine Mitstreiter die, wenn man den Namen wörtlich nimmt, „Detektive beobachten“. Damit liefert er schon im Namen seines Blogs einen entscheidenden Hinweis auf die Tätigkeit eines Rezensenten: Er beobachtet. Er beobachtet kritisch. Als Krimirezensent beobachtet er kritisch die Detektive. Dieser schlichte Satz gibt vor, welche drei wichtigen Eigenschaften einen Krimirezensenten ausmachen: Er beobachtet, er ist kritisch und er hat sich auf den Gegenstand seiner kritischen Beobachtung mehr oder weniger festgelegt – die Detektive, die wir hier einmal stellvertretend für die Kriminalromane ansehen wollen. Das diese Beobachtung „kritisch“ zu erfolgen hat, steht natürlich nicht im Titel. Dennoch erschließt sie sich daraus – aber dazu in der nächsten Folge mehr.

Bleiben wir erst einmal bei dem Begriff Beobachtung. Wenn wir einen Roman lesen, beobachten wir. Wir beobachten, wie Figuren sich in einem Roman verhalten. Wir beobachten, wie sie fühlen, wie sie denken. Wir beobachten Landschaften, wir beobachten das Wetter, wir beobachten all die Dinge, Personen und Ereignisse, die ein Autor in seinem Roman beschreibt. Das tun wir beim Lesen ganz automatisch. Gleichzeitig tun wir etwas, was auch der Autor als Grundlage für sein Buch getan hat. Beobachten. Ein Autor, der zum Beispiel eine Szene in einem Pariser Straßencafé beschreiben will, ist bei seiner Beschreibung in der Regel im Vorteil, wenn er selbst schon einmal in einem Pariser Straßencafè gesessen hat und – beobachtet hat. Wie verhalten sich die Kellner? Wie eng sind die Stühle? Wie schmeckt der Kaffee? Wie laut ist der Verkehr drumherum? Müssen wir also auch als Leser schon mal am Boulevard St. Germain ein café au lait getrunken haben? Nicht unbedingt, aber natürlich hilft Lebenserfahrung, all das, was wir schon einmal selbst erlebt, gesehen, gerochen und gefühlt haben, bei der späteren Beurteilung. Zugleich kann uns dies aber auch die Beobachtung des Romans erschweren. Wir vergleichen unsere Beobachtungen mit denen des Autors und diese werden durchaus voneinander abweichen – beide sind jedoch „richtig“. Wichtig ist, dass wir beobachten.

Wenn wir ein kritischer Leser werden wollen, dann beobachten wir nicht nur, was uns der Autor erzählt, wir beobachten auch wie er es erzählt. Wie sind zum Beispiel seine Sätze gebaut? Schreibt er lange oder kurze Sätze? Benutzt er viele Adjektive oder meidet er sie? Bildet er grammatisch vollständige Sätze oder verkürzt er sie? Bevorzugt er Dialoge oder indirekte Rede? Schreibt er umgangssprachlich, benutzt er viele Fremdwörter? Dabei nehmen wir dies auch zunächst einmal nur wahr. Wir beobachten seinen Stil, seine Grammatik, seine Sprache. Fast automatisch beginnen wir dann aber, diese Beobachtungen auch gleich zu werten: Die Sätze sind viel zu lang. Die Sprache ist holprig. Die Dialoge sind künstlich, so spricht doch kein Mensch. Und auch inhaltlich beginnen wir zu werten: So wie er den Boulevard St. Germain beschreibt, habe ich ihn bei meiner Paris-Reise nicht erlebt. Mit einer kritischen Bewertung hat dies allerdings noch gar nichts zu tun. Wir sind hier an einer ersten heiklen Stelle angekommen: Was ganz automatisch eine positive oder negative Wertung hervorruft, ist nichts anderes als ein erster Eindruck. Dieser kann täuschen. Lange Sätze? – Vielleicht entpuppen sie sich im Laufe der Erzählung als sinnvoll, vielleicht benutzt der Autor dies als Stilmittel. Künstliche Dialoge? Vielleicht reden seine Figuren bewusst künstlich und dies wird an einer späteren Stelle aufgelöst. Und war es nicht September, als ich im Café in Paris gesessen habe, der Roman aber spielt im Frühling vor fünf Jahren? Wir sollten also nicht nur beobachten, was der Autor beschreibt, wir sollten nicht nur beobachten, wie er es beschreibt, wir sollten auch beobachten, wie wir während des Lesens darauf reagieren. Wie gleichen wir unsere Erfahrungen und Erwartungen an den Text mit dem Text ab? Darin besteht eine erste, wichtige Voraussetzung, wenn wir ein kritischer Leser werden wollen: Wir beobachten den Inhalt des Textes, die Form des Textes und wir beobachten uns selbst als Leser. All das ist Arbeit. Wer aber will schon beim Lesen eines Kriminalromans arbeiten?

Es gibt das bequeme Lesen: Wir folgen einfach dem, was uns der Autor erzählt. Wir tauchen ein in eine Geschichte, wir können das Buch gar nicht aus der Hand legen, wir sind gespannt. “Ein spannender Krimi“ lautet dann oft das Urteil eines “passiven“ Lesers. Daran ist nichts verwerflich, es ist nur keine Kritik. Es ist eine Meinung, die wir bei Internetbuchhändlern, bei Krimi-Portalen und auch in einigen Blogs lesen können. Kritik hingegen benötigt ein fundiertes Urteil, eine Begründung und die Fähigkeit, Kriminalromane einzuordnen – und zwar innerhalb des eigentlichen Textes des Kriminalromans, in Bezug zu anderen Kriminalromanen, Romanen oder anderen Texten und in das gesellschaftliche, historische und soziale Umfeld, in dem dieser Roman veröffentlicht wurde. Eine anspruchsvolle Tätigkeit, die vieles voraussetzt. Dazu muss man nicht Literatur studiert haben – eine gute Beobachtungsgabe ist da zunächst einmal viel entscheidender.

Solange wir kein guter, aufmerksamer und wacher Beobachter werden, können wir auch kein guter Kritiker werden.

Übung

Genaues, aufmerksames und waches Beobachten ist also die erste Voraussetzung für eine gute Kritik. Das Schöne: Beobachten kann man lernen. Bevor wir das Beobachten an Kriminalromanen ausprobieren, sollten wir es an tagtäglichen Erfahrungen üben. Als praktische Übung setze Dich einfach irgendwo hin, in ein Cafè, in die U-Bahn, an den Strand. Beobachte und schreibe diese Beobachtungen auf. Tue dies immer wieder, in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlicher Umgebung. Beschreibe die Fußgängerzone Deiner Stadt während eines Samstagvormittags und während der späten Abendstunden an einem Mittwoch. Schreibe Deine Beobachtungen immer wieder auf, zum Beispiel in ein Tagebuch oder – wenn Du magst – in ein Blog. Schreibe regelmäßig von verschiedenen Situationen und Orten. Suche Plätze auf, die Du sonst nie besuchst. Schau auf Plätzen vorbei, die Du besonders magst. Nimm Dir entsprechend Zeit dazu. Beobachte eine Straße über eine ganze Stunde hinweg. Wichtig ist, dass Du alles was Du siehst, fühlst, riechst oder schmeckst, aufschreibst. Tue das, was auch ein Autor tun könnte, wenn er für ein neues Buch recherchiert. Lerne, zu beobachten und das Beobachtete aufzuschreiben.

In der nächsten Folge in der kommenden Woche wollen wir mit diesen Beobachtungen arbeiten und schon einmal erste Blicke auf den Begriff “Kritik“ werfen. Und wir klären die Frage, warum der Blogtitel “Watching the Detectives“ eine kritische Einstellung enthält.

Hinweis: Diese Doku-Soap erhebt nicht den Anspruch, eine Kritikerausbildung zu sein oder ein Literaturstudium zu ersetzen. Sie ist “ergebnisoffen“ und ziellos. Sie ist staubtrocken und öde, damit künftige Krimirezensenten gleich merken, was sie in ihrem Traumberuf erwartet. Für eventuelle Schäden ist der Autor nicht haftbar zu machen.