Krimiblog-Archiv

2005 – 2010

Dichtung und Wahrheit – Folge 4365

Interessante Einlassungen zum Thema Realität und Fiktion finden sich in dem Artikel → „Wer rettet die Fiktion vor der Wirklichkeit?“ von Hendrik Werner bei „Welt Online“. Werner beschäftigt sich dort mit der Diskussion um die zwei aktuellen „Tatort“-Folgen → „Wem Ehre gebührt“ vom 23. Dezember 2007 und → „Der Kormorankrieg“ vom 6. Januar 2008. Beide riefen Proteste hervor: „Wem Ehre gebührt“ stieß bei Mitgliedern der alevitische Glaubensgemeinschaft auf Empörung und Ablehnung, „Der Kormorankrieg“ rief den Landesfischereiverband Baden auf den Plan. Werner schreibt nun in seinem Artikel:

„So wie die noch unerfahrenen TV-Konsumenten in den Fünfzigern mehr für bare Münze nahmen, als die Polizei hätte erlauben dürfen, frönen derzeit erschreckend viele Krimizuschauer offenbar einer vorplatonischen Rezeptionshaltung, die noch nichts vom Höhlengleichnis weiß. Einer Haltung, die nicht zu unterscheiden vermag zwischen Gegenstand und Schatten, Sein und Schein, Realität und Konstruktion, Fakten und Fiktion, Bild und Abbild, Wahrheit und Dichtung.“

Und etwas weiter unten heißt es:

„Damit bestätigt der Disput um die beiden inkriminierten „Tatort“-Folgen einen durchaus positiven Befund: dass der Krimi, sei es der literarische oder der verfilmte, eine der letzten popkulturellen Bastionen ist, in denen deutsche Wirklichkeit glaubhaft dargestellt werden kann. So leistet ein guter Thriller, wenn er denn hinreichend mit fiktionalisierten Fakten nahe einer vorstellbaren Realität unterfüttert wird, all das, was sonst nur eine ambitionierte Sozialreportage leisten kann: deutsche Zeitläufte abzubilden. Dass schlichter gestrickte „Tatort“-Zuschauer die der Fantasie von (Drehbuch-)Autor und Regisseur entsprungene Zwitterform zwischen Fakten und Fiktion, „faction“, nicht zu erkennen vermögen, darf man nicht dem Format zum Vorwurf machen, sondern muss es einem unreifen Mediennutzungsverhalten zuschreiben.“

Wer Diskussionen in Internetforen zum Kriminalroman in den letzten Jahren verfolgt hat, kann die Formulierung der „schlichter gestrickten“ „Tatort“-Zuschauer durchaus auch auf so manche Leser übertragen. Erschreckend allerdings auch, dass sich zum Beispiel die Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren „Das Syndikat“, in dem ja auch Drehbuchautoren vertreten sind, bislang noch nicht öffentlich zu den Vorgängen geäußert hat. Ich gebe zu, eine vielleicht naive Erwartung von mir.

Das Böse

Erst in den letzten Tagen habe ich – dank großer Plakate in der U-Bahn – dies entdeckt: Im → Bremer Überseemuseum läuft schon seit Mitte November die Ausstellung → „All about evil – Das Böse“ statt. Laut Pressetext ist es „eines der faszinierendsten und komplexesten Themen der Menschheitsgeschichte – das Böse. Es ist allgegenwärtig, bedroht, fasziniert und führt uns in Versuchung. Seit Jahrtausenden zeigt uns das Böse sein Gesicht, auf allen Kontinenten, in allen Kulturen und Religionen.“ Die Ausstellung will ihre Besucher mit auf eine kulturvergleichende Suche nach den dunklen Seiten des menschlichen Daseins nehmen. Im Mittelpunkt steht allerdings das übernatürliche, das metaphysische Böse. Faktische Dinge wie Schwerverbrechen oder Naturkatastrophen werden ausgeklammert. Ein Besuch lohnt sich vielleicht trotzdem.

Platzpatrone: Späte Huldigung für einen brutalen Serienmörder

Bernd → weist heute auf den neuen Krimipreis → „Ripper Award“ hin. Die Begründung für den Preisnamen liefern die Organisatoren auch gleich mit:

„Der Titel RIPPER AWARD basiert auf der Figur des historischen Jack the Ripper, der im Jahr 1888 im Londoner Stadtviertel Whitechapel mindestens fünf Frauen ermordete. 2008 – wenn das Krimifestival bereits zum Vierten Male stattfinden wird – jähren sich die Ereignisse um den historischen Fall zum 120 Mal. Jack the Ripper ist zudem der Serienmörder, mit dem das Grauen, aber auch Kriminalität und der Krimi par excellence verbunden wird.“

Eine Begründung, bei der man als normaler Krimileser zwischen Fremdschämen und peinlicher Berührung schwankt. Einen Literaturpreis, der auch noch als → „europäischer“ Krimipreis verkauft und mit Steuergeldern finanziert wird, nach einem → grausamen Serienmörder zu benennen, ist geschmacklos. Denn natürlich ehrt man mit so einem Preis nicht nur die Autorin oder den Autor, die/der mit diesem Preis ausgezeichnet wird, sondern auch den Namensgeber des Preises. → Krimipreise weltweit sind entweder sachlich-neutral benannt (zum Beispiel „Deutscher Krimipreis“), nach stilbildenden Autoren (zum Beispiel „Edgar Awards“) nach Kritikern (zum Beispiel „Anthony Award“) oder nach Gegenständen, die man mit Kriminalliteratur in Verbindung bringen kann (zum Beispiel die „Dagger Awards“, die zudem immer noch den Namen des Preisgeldstifters enthalten). Wie wäre es also in Zukunft mit einem „Charles-Manson-Award“, einem „Yorkshire-Ripper-Preis“ beziehungsweise „Peter-Sutcliffe-Preis“? Vielleicht sollten diese „Krimiexperten“ einfach mal David Peace lesen, ich glaube, dann wären sie nie auf so einen geschmacklosen und dämlichen Preisnamen gekommen.

Was bleibt: Eine klare Forderung, diesen Preis umgehend umzubenennen! Sonst macht man sich, die Kriminalliteratur und die auszuzeichnenden Autoren einfach nur lächerlich.

Sebastians Fitzeks Roman „Das Kind“ auf virtueller Lesereise

Das Kind
Mysteriöse Blumensträuße, Pizzen und USB-Sticks sorgten im vergangen Herbst für einige Aufregung in der deutschen Bloggerszene, in Foren und auf Literaturseiten. Noch geheimnisvoller war das Alternate Reality Game – kurz ARG genannt – das sich dahinter versteckte und vor allem die Kolleginnen und Kollegen in Berlin auf Trab hielt. Nun ist mittlerweile klar, wer dahinter steckte: Der Thrillerautor → Sebastian Fitzek. Mit der spektakulären Aktion erregte er Aufmerksamkeit für sein neues Buch „Das Kind“, welches in den nächsten Tagen erscheint. Als Krimiblogger freue ich mich sehr, dass Sebastian Fitzek nun mit seinem Hörbuch auf virtuelle Lesereise geht und auch hier bei mir eine Station einlegt.

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Wenn der Computer Romane schreibt…

Wenig Freude bereitet momentan das russische Verlagshaus Astrel SPb, denn dort soll in diesen Tagen der erste Roman erscheinen, der von einem Computer geschrieben wurde. Verlagschef Alexander Prokopovich → teilte schon im Dezember mit, dass ein Programm mit dem Namen „PC Writer 2008“ den Roman verfasst hat. Das Computerprogramm wurde von IT-Spezialisten und Philologen entwickelt. Danach haben die Philologen für jeden Romancharakter ein Dossier entwickelt, in dem Auftreten, Wortschatz, psychologisches Profil und andere Eigenschaften hinterlegt wurden. Innerhalb von drei Tagen war dann die erste Version fertig, die allerdings dem Verlag nicht zusagte. Die zweite Variante, ebenfalls innerhalb von drei Tagen entstanden, soll nun mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheinen. Der Roman, der „Wahre Liebe“ heißt, basiert übrigens auf den Figuren von Tolstois „→ Anna Karenina„, ist in der Art von → Haruki Murakami verfasst, soll von der Sprache und der literarischen Technik her aber eine Mischung aus insgesamt 13 russischen und nicht-russischen Autoren sein. Auf wenig Gegenliebe stößt das Projekt bei dem russischen Autor Wladimir Orlow, der den Roman als trivial ablehnte. Andere zeigten sich demgegenüber offener. In der Literaturszene von St. Petersburg wird allerdings auch darüber spekuliert, ob wirklich ein Computer hinter dem Roman steht oder ob nicht vielmehr ein Ghostwriter das Buch verfasst habe.

Vorschau: Das 6. Krimifestival in München

Das sind spannende Aussichten für das noch junge Jahr: Vom 7. bis 19. März 2008 geht das Krimifestival in München zum sechsten Mal an den Start.

Rund 60 hochkarätige Krimi-Autoren aus aller Welt strömen im März zur Spurensuche an die Isar, darunter Robert Littell, der Altmeister des Spionage-Romans aus den USA, David Peace der härteste britische Krimiautor einer der härtesten britischen Krimiautoren, Anti-Mafia-Staatsanwalt Gianrico Carofiglio aus Kalabrien, die schwedische Bestsellerautorin Helene Tursten, Cecil Oker aus der Türkei, Alexander McCall Smith aus Botswana, Francisco Casavella aus Barcelona, der Schweizer Ernst Solér, der Wiener Newcomer Thomas Raab und Time-Korrespondent Matt Beynon Rees aus Jerusalem mit dem ersten palästinensischen Ermittler in der Kriminalliteratur.

Auch die Stars der deutschsprachigen Krimi-Szene geben sich zum Krimifestival München 2008 wieder die Ehre, darunter die Lokalmatadoren Friedrich Ani, Robert Hültner und Oliver Bottini, die bayerische Autorin Andrea Maria Schenkel, sowie Sebastian Fitzek, der neue Meister des Psycho-Thrillers, und Kult-Autor –ky (Horst Bosetzky), der „Erfinder“ des deutschsprachigen Sozio-Krimis.

Das alles sieht viel versprechend aus und wird schon mal dick im Terminkalender angestrichen. Weitere Infos gibt es auch unter → www.krimifestival-muenchen.de.

Und noch eine Ergänzung: Am 30. Januar 2008 präsentiert das Krimifestival München die Buchpremiere von Peter James. Der englische Autor stellt seinen neuen Krimi „Nicht tot genug“ im Schießkeller des Bayerischen Landeskriminalamts in München vor. Den deutschen Text liest der Münchner Schauspieler Hans Jürgen Stockerl.

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Presseschau: Crime Time 52

Etwas unlogisch erscheint mir derzeit die Verlagspolitik der englischen Krimizeitschrift „Crime Time“. Gab es das letzte Heft → kostenlos als PDF-Dokument im Internet, liegt nun die aktuelle Ausgabe Nr. 52 wieder in gedruckter Form vor mir. Auch gut. Darin ein (viel zu) kurzes Porträt des us-amerikanischen Krimiautors → James Sallis sowie die Vorstellung seines aktuellen Romans „Cripple Creek“. → Laura Wilson macht sich Gedanken über aktuelle Neuerscheinungen, → Thomas H. Cook, dessen Roman „The Red Leaves“ auch gerade bei uns in deutscher Übersetzung („Das Gift des Zweifels“) erschienen ist, steht in einem Interview Rede und Antwort und Woody Haut beschäftigt sich mit den Femmes Fatales. Dazu jede Menge Kino-, TV-, DVD- und Buchtipps. Und vielleicht gibt es die 52. Ausgabe ja auch bald schon im Netz, bei → crimetime.co.uk. Umsonst.

Presseschau: Alibis No. 25

So beginnt das neue Jahr doch gut: Die fünfundzwanzigste Ausgabe der kanadischen Krimizeitschrift „Alibis“ liegt im Briefkasten. Neben vier Kurzkrimis findet sich im Heft unter anderem ein längeres Interview mit → Patrick Senécal, der bei uns wohl nur Insidern bekannt ist, in Kanada aber ein berühmter Autor von Thrillern und Horrorromanen ist. Finster geht es auch in dem Artikel „Polars écolos – Quand le roman noir se met au vert“ von Pierre Monette weiter. Der geschätzte Norbert Spehner beschäftigt sich anschließend mit Sekundärliteratur zum Kriminalroman und wie in jedem Heft gibt es dann noch kurze und knappe Buchempfehlungen. Ebenfalls wie immer: Viele Ergänzungen zum gedruckten Heft auf der schönen Homepage von → „Alibis“. Erhellende Lektüre.

Die Krimi-Glaskugel 2008

Gestern noch zurück geschaut, schweift mein Blick am ersten Tag des neuen Jahres in die Zukunft. Als Glaskugel dienen mir dabei vor allem die Verlagsvorschauen, die hier so allmählich eintrudeln. Da die aber in der Regel immer nur sechs Monate umfassen, wäre es auch von mir vermessen, gleich ein ganzes Jahr ins Visier zu nehmen. Aber schauen wir doch mal, was uns die ersten Monate des Jahres 2008 kriminalliterarisch so bringen könnten.

Man braucht kein großer Hellseher zu sein, um ein wichtiges literarisches Ereignis vorher zu sehen. Im März 2008 soll im Pendragon-Verlag das neue Buch von Frank Göhre erscheinen. „Mo – Der Lebensroman des Friedrich Glauser“ heißt es und dürfte eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs werden. Göhre hat seinem Autorenkollegen eine Biografie geschrieben, denn schließlich habe Glauser ein „Leben wie in einem Roman“ geführt. Fehlte bislang nur der Roman und den soll es dann geben. Man kann das Buch aber sicher auch so sehen, wie es der Verlag tut: als Annäherung ein die Vatergestalt der deutschen Kriminalliteratur.

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Krimi retrospektiv: Lob & Hudel, Pauken & Trompeten 2007

„Dreh‘ Dich nicht um! Schau‘ nicht zurück!“ – zum Jahreswechsel verstoße ich gerne gegen diese Krimigebote. Noch einmal lasse ich – natürlich ganz persönlich – Revue passieren, welche Bücher mich im Jahr 2007 beeindruckten und welche an meinen Nerven sägten.

Lob & Hudel:
Eine Entdeckung im Herbst war für mich Giwi Margwelaschwilis „Officer Pembry“. Ein Buch jenseits aller Genregrenzen, das Krimi, Thriller Science-Fiction, literarisches Spiel und Kulturkritik grandios vereint. Wie sich der echte Officer Pembry mit Hilfe des Beamten Meinleser von der Prospektiven Kriminalpolizei gegen die eigene Ermordung durch Hannibal Lecter wappnet, die in dem hundert Jahre alten Roman „Das Schweigen der Lämmer“ so detailliert beschrieben und vorweg genommen ist, das ist ein tolles Spiel mit Fiktion und Realität. Wer in Zukunft (!) über „realistische Kriminalliteratur“ nachdenkt, kommt um die phantastische und spielerisch-ernste Gedankenwelt des Ontotextologen Margwelaschwili eigentlich nicht herum.
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